Die Konzentration der Einkommen in Chile

Urs Müller-Plantenberg

Chile war nie ein Land, das sich durch eine einigermaßen ausgeglichene Einkommensverteilung ausgezeichnet hat. Die Hervorhebung der Unterschiede zwischen dem Wohlergehen der Ricos, der Oberschicht der Reichen, und dem ziemlich erbärmlichen Leben der Rotos, der Massen der Armen in der Stadt und auf dem Land, zieht sich seit Beginn der Kolonisierung im 16. Jahrhundert wie ein roter Faden durch alle realistischen Darstellungen der chilenischen Gesellschaft, in Erzählungen und Romanen ebenso wie in der historischen und soziologischen Literatur. Seit den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts war Chile aber auch eins der Länder, in denen die Armut und mangelnde Teilhabe großer Teile der Bevölkerung – darunter auch der Mapuche und anderer indigener Völker – von Teilen der gesellschaftlichen Eliten als unerträglich und mit den Zielen einer zivilisierten Gesellschaft unvereinbar empfunden wurden. Teile der katholischen Kirche machten das Engagement für die Integration der “Marginalisierten” zu ihrer Sache, und unter dem Druck der wachsenden Arbeiterbewegung versuchte die christdemokratische Regierung des Präsidenten Eduardo Frei (1964-1970) unter dem Banner einer “Revolution in Freiheit”, die herrschende soziale Ungerechtigkeit schrittweise abzubauen. Der aktive Kampf für eine weniger ungleiche Einkommensverteilung wurde schließlich Anfang der siebziger Jahre zu einem der wichtigsten Programmpunkte der Regierung der Unidad Popular, einer Koalition der großen und kleinen Parteien der politischen Linken unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (1970-1973). Die politischen und ökonomischen Probleme, die dieser Kampf ausgelöst hat, haben ganz sicher dazu beigetragen, daß die chilenische Oberschicht schließlich 1973 bereit war, einen Militärputsch zur Rettung ihrer Privilegien nach Kräften zu unterstützen.

Daß die Militärjunta und die spätere Militärregierung des Generals Augusto Pinochet (1973-1990) die erreichten Veränderungen in der Einkommensverteilung der chilenischen Gesellschaft nicht beibehalten würden, war von Anfang an klar. Niemand aber hat 1973 das Ausmaß der neuerlichen Einkommenskonzentration unter den Militärs ahnen können. Die systematische Verringerung der Reallöhne bei gleichzeitiger Freigabe aller anderen Preise und ein Verbot praktisch aller unabhängigen gewerkschaftlichen Aktivität sorgten gleich zu Beginn der Militärdiktatur für eine starke Verschiebung der Einkommensverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen. Die wirklichen Einbrüche aber fanden erst statt, als die Militärs 1975 neoliberalen Ökonomen, den sogenannten  “Chicago Boys”, die Lenkung der Wirtschaftspolitik übertrugen. Deren “Schockpolitik” öffnete die stark geschützte chilenische Ökonomie von einem Tag zum anderen der freien Konkurrenz des Weltmarkts und sorgte so für eine beispiellose Entindustrialisierung: Allein 1975 ging die Industrieproduktion Chiles um 24 Prozent zurück, was einen beispiellosen Rückgang des Bruttosozialprodukts um 14 Prozent bewirkte. Der Schockeffekt wurde noch dadurch verstärkt, daß sich die Weltwirtschaft in diesem Jahr ohnehin in einer Krise befand. In den nächsten Jahren stieg die Arbeitslosigkeitsrate auf mehr als 20 Prozent, wobei die bis zu über zehn Prozent der Beteiligten an sogenannten “Mindestbeschäftigungsprogrammen” nicht einmal mitgezählt wurden. Die neoliberale Arbeitsgesetzgebung der Militärregierung suchte die Lösung dieser Probleme in einem scharfen Ungleichgewicht zu Gunsten der Seite des Kapitals durch Beschneidung der Rechte von Gewerkschaften und Flexibilisierung der Arbeitskräfte.

Diese Veränderungen, die von Militärs und Chicago Boys freiwillig – gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank – durchgesetzt wurden, haben die Einkommensverteilung in Chile weit stärker verändert, als das in den Jahrzehnten vorher unter demokratischen Regierungen in der umgekehrten Richtung geschehen war. Durch eine zweite Wirtschaftskrise ähnlichen Ausmaßes wurde 1982 diese Tendenz – nach Jahren mäßigen Wachstums – noch einmal verschärft. Und auch das seit 1986 einsetzende stärkere Wirtschaftswachstum, das zunächst nichts anderes bewirkte, als die schweren Verluste seit 1972 – allerdings mit einer völlig anderen Produktionspalette – auszugleichen, konnte im wesentlichen von der Oberschicht zur Steigerung ihres Reichtums genutzt werden.

Als der Diktator Pinochet 1990 durch den demokratisch gewählten Präsidenten Patricio Aylwin abgelöst wurde, haben die christdemokratischen und sozialistischen Politiker die neoliberale Wirtschaftspolitik, die sie alle früher schärfstens kritisiert hatten, fast ohne Änderungen übernommen, um das aktuelle Wachstum nicht zu gefährden. Allerdings sollte nach ihrer Vorstellung die Ausrichtung der Produktionsstruktur auf den Weltmarkt von einer stärkeren Bemühung um sozialen Ausgleich begleitet werden. Damit befanden sie sich im Einklang mit der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), die eben zu dieser Zeit nach dem sogenannten “verlorenen” Jahrzehnt der achtziger Jahre für Lateinamerika eine entsprechende Umorientierung der Wirtschaftspolitik verlangt hatte (CEPAL 1990). Allerdings sollte dieser Ausgleich vor allem durch Herstellung von Chancengleichheit und gezielte Sozialhilfe für die Ärmsten der Bevölkerung erreicht werden, durch Maßnahmen also, die mit dem neoliberalen Credo durchaus vereinbar sind. Diese Selbstbeschränkung und die Behinderungen, die eine autoritär-undemo­kratische Verfassung der Durchsetzung des Mehrheitswillens in Chile entgegensetzt, haben eine progressive Umverteilung der Einkommen in stärkerem Ausmaß bisher unmöglich gemacht. Es ist deshalb kein Wunder, daß Chile noch 1996 von der Weltbank in ihrem Weltentwicklungsbericht gleich nach Brasilien als das lateinamerikanische Land mit der zweitschlechtesten Einkommensverteilung ausgewiesen wurde.

Indikatoren der Armut und der Ungleichheit

Es sind vor allem drei Indikatoren, die für die Messung von Armut und Ungleichheit in den lateinamerikanischen Gesellschaften herangezogen werden:

-         der Prozentsatz der Bevölkerung, der in Armut (pobreza) bzw. in extremer Armut (indigencia) lebt,

-         der Gini-Index, der zwischen 0 (= völlige Gleichheit der Einkommen) und 1 (= totale Konzentration) liegt, und

-         der Anteil, den die Fünftel (oder Zehntel) der Reichsten bzw. Ärmsten am Gesamteinkommen der Bevölkerung haben, dazu die Relation zwischen diesen Anteilen.

Die Definition von Armut bzw. extremer Armut, wie sie in Chile benutzt wird, ist unabhängig vom Durchschnittseinkommen der Bevölkerung. Während nach der in Deutschland üblichen Definition die Armut da anfängt, wo eine Person über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügt, gibt es für Lateinamerika als Grenze eine absolute Linie in Höhe eines bestimmten Einkommens. Nach einer Festlegung der CEPAL beginnt die extreme Armut dort, wo das Einkommen einer Person nicht ausreicht, um einen für die Mindesternährung ausreichenden Korb von Lebensmitteln zu lokalen Preisen sichern zu können. Die “normale” städtische Armut beginnt beim Gegenwert von zwei solchen Körben, die ländliche Armut bei dem von 1,75 Körben (Lustig 1993, S. 215). Das bedeutet, daß bei positivem Wirtschaftswachstum und gleichbleibender Einkommensstruktur Armut und extreme Armut allmählich verschwinden (und nicht wie nach der deutschen Definition gleich bleiben). Diese Grenze zur Armut lag beispielsweise für den städtischen Bereich in Chile 1993 beim Gegenwert von 86,72 US-Dollars (von 1985) monatlich oder im November 1996 bei 34.272 chilenischen Pesos. Wer ein geringeres Einkommen hat, gilt als arm, wer nicht einmal über die Hälfte davon verfügen kann, als sehr arm. Zu beachten ist, daß die Armutslinie die Verteilung der Bevölkerung auf die verschiedenen Einkommenshöhen in den letzten Jahren meistens an der Stelle oder knapp unterhalb der Stelle geschnitten hat, wo sich die meisten Einkommen konzentrieren (vgl. Contreras 1996, S. 79 ff.). Eine an sich unwesentlich erscheinende Änderung etwa der Tomatenpreise, der Reallöhne oder der Steuersätze kann also eine erhebliche Steigerung oder Senkung des Prozentsatzes der Armen bewirken.

Die Entwicklung von Armut und extremer Armut wird in Chile seit 1987 alle zwei Jahre vom Planungsministerium MIDEPLAN in repräsentativen Umfragen in mehr als 30.000 Haushalten, den sogenannten Encuestas CASEN, gemessen. Vergleiche für die Zeit vorher werden selten angestellt. Es läßt sich jedoch plausibel erklären, daß der Anteil der Armen an der Bevölkerung 1970 bei unter 20 Prozent und 1985 bei über 50 Prozent lag (vgl. Lustig 1993, S. 203), wobei der Anteil der Armen auf dem Land jeweils beträchtlich höher lag. Das würde bedeuten, daß während der Zeit der Militärdiktatur mehr als 30 Prozent der chilenischen Bevölkerung zusätzlich unter die Armutsgrenze geraten sind. Die Ergebnisse für das letzte Jahrzehnt bietet die folgende Tabelle:

Tabelle 1:

Entwicklung der Armut und extremen Armut in Chile 1987-1996

(in Prozent)

Bevölkerung

1987

1990

1992

1994

1996

In Armut

45,1

38,6

32,6

27,5

23,2

Davon: in extremer Armut

17,4

12,9

8,8

7,6

5,8

Quelle: MIDEPLAN (1988, 1991, 1993, 1995, 1997)

 

Die Senkung des Anteils der Armen um fast die Hälfte und des Anteils der extrem Armen um zwei Drittel seit 1987 kann zweifellos als Erfolg gewertet werden. Sie ist allerdings zunächst und vor allem ein Ergebnis des Wirtschaftswachstums, das seit 1986 durchschnittliche Raten von etwa sieben Prozent erreicht hat. Der allmähliche Abbau der Arbeitslosigkeit, die Eingliederung immer größerer Teile der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt und – wenn auch langsam – steigende Reallöhne schlagen sich zwangsläufig in einem Rückgang der beobachtbaren Armut nieder. Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß im politischen Diskurs auch für die Zukunft nicht in der Umverteilung, sondern im Wachstum um jeden Preis das wichtigste Instrument für den Kampf gegen die Armut gesehen wird. Umgekehrt muß ohne eine aktive Politik der Umverteilung bei einem Rückgang des Wirtschaftswachstums, wie er beispielsweise als Spätwirkung der Asien-Krise für 1999 zu erwarten ist, mit einem Bleiben oder sogar mit einem Wiederanstieg der Armut gerechnet werden.

Der Gini-Index, der das Ausmaß der Ungleichheit mißt, lag für die Personen-Einkommen in Chile für die gesamten achtziger Jahre erstaunlich stabil zwischen 0,52 und 0,56 und damit nur wenig unter dem von Brasilien, der sich in dieser Zeit zwischen 0,58 und 0,63 bewegte, aber weit über dem von Ländern wie Argentinien, Uruguay, Costa Rica, Venezuela oder auch Peru, deren Gini-Indizes sich um 0,40 bewegten (vgl. Lustig 1993, S. 206ff.). Über die Zeit nach 1989 liegen leider keine verläßlichen Berechnungen vor. Es läßt sich jedoch auf der Basis der folgenden Daten annehmen, daß der Gini-Index seither völlig stabil geblieben ist.

Die Entwicklung der Einkommensverteilung nämlich zeigt nach den Daten der CASEN-Umfragen des Planungsministeriums praktisch einen völligen Stillstand an, wie die folgenden Daten der Tabelle 2 zeigen. Die geringfügige Verbesserung der Position der untersten Einkommensschichten, wie sie noch bis 1992 beobachtet werden konnte (vgl. Wiebe/Leinhos 1994, S. 123), hat dem genau umgekehrten Trend Platz gemacht. Unter der Regierung des Präsidenten Eduardo Frei (Sohn, seit 1994) ist jetzt sogar eine geringfügige Verschlech­terung der Einkommensverteilung gegenüber den letzten Jahren der Militär­diktatur zu beobachten. Von einer Annäherung an die Verhältnisse in den euro­päischen Industrieländern, in denen das durchschnittliche Verhältnis der Gesamteinkommen der 20 Prozent reichsten Haushalte zu den Gesamteinkommen der 20 Prozent ärmsten Haushalte in den achtziger Jahren bei etwa 5,6 lag, kann also noch lange keine Rede sein (vgl. auch Schatan 1998, S. 131ff.).

Tabelle 2:

Entwicklung der Geldeinkommensverteilung nach Einkommensgruppen 1987-1996*
(in Prozent)

Zehntel nach Höhe des

eigenen Einkommens

Verteilung der Geldeinkommen**

1987

1990

1992

1994

1996

1

1,5

1,6

1,7

1,5

1,4

2

2,8

2,8

2,9

2,8

2,7

3

3,6

3,7

3,8

3,6

3,6

4

4,3

4,5

4,7

4,6

4,6

5

5,4

5,4

5.6

5,6

5,5

6

6,3

6,9

6,6

6,4

6,4

7

8,1

7,8

8,0

8,0

8,1

8

10,9

10,3

10,4

10,5

11,0

9

15,9

15,1

14,7

15,3

15,4

10

41,3

41,8

41,6

41,6

41,3

Total

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

20/20***

13,30

12,93

12,24

13,12

13,83

*Häusliche Bedienstete mit ihren Angehörigen sind nicht einbezogen.

** Die Geldeinkommen schließen außer den eigenen Einkommen die Transferzahlungen des öffentlichen Sektors an die Haushalte ein.

*** Verhältnis der Gesamteinkommen der 20 Prozent reichsten Haushalte zu den Gesamteinkommen der 20 Prozent ärmsten Haushalte.

Quelle: MIDEPLAN (1988, 1991, 1993, 1995, 1997)

 

Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein gleicher Einkommenszuwachs bei den höchsten Einkommen wie bei den niedrigsten zwar eine gleichbleibende Einkommensverteilung ergibt, real aber etwas ganz anderes bedeutet. Wenn beispielsweise die Durchschnittseinkommen des untersten Zehntels der Haushalte zwischen 1994 und 1996 um 9,7 Prozent angestiegen sind, so bedeutete das einen realen Zuwachs des Monatseinkommens um etwa 5.100 Pesos oder knapp 13 US-Dollar, was für ein Paar einfache Sandalen reichen mochte, während die durchschnittliche Zunahme der Einkommen des obersten Zehntels von 13,3 Prozent im gleichen Zeitraum einen realen Einkommenszuwachs von etwa 195.000 Pesos, also fast 500 Dollar bedeutete, genug um einen eleganten Herrenanzug einzukaufen. Real gesehen klafft also die Schere immer weiter auseinander.

Faktoren, die auf die Einkommensverteilung Einfluß haben

Das Planungsministerium hält sich viel darauf zugute, daß die Einkommensverteilung ohne die Einbeziehung der direkten staatlichen Subsidien noch schlechter ausfallen würde und daß die Zurechnung staatlicher Subventionen für das Gesundheitswesen und das Bildungswesen zu den Einkommensgruppen eine zusätzliche Verbesserung der Einkommensverteilung bedeute. Die Tabellen 3 und 4 geben Auskunft über die entsprechenden Berechnungen:

Tabelle 3:

Monatseinkommen der Haushalte pro Fünftel nach Einkommenstyp 1996*
(Durchschnitt in Pesos)

 

Fünftel der Haushalte nach eigenem Einkommen*

 

Einkommenstyp

I

II

III

IV

V

Durchschnitt

I Eigenes Einkommen

74.644

155.185

228.333

372.638

1.108.017

387.763

II Geldsubsidien

7.058

4.699

3.499

1.823

541

3.524

III Geldeinkommen (I+II)

81.702

159.885

231.832

374.461

1.108.558

391.287

IV Subsidien f. Gesundheit

16.708

9.609

7.909

3.733

- 2.803

7.032

V Subsidien für Bildung

32.553

18.632

13.700

8.646

3.541

15.415

VI Gesundheit u. Bildung

49.261

28.241

21.609

12.379

738

22.446

VII Gesamteinkommen

(III+V)

130.964

188.126

253.441

386.840

1.109.296

413.734

* Häusliche Bedienstete mit ihren Angehörigen sind nicht einbezogen.

** Das eigene Einkommen entspricht dem Einkommen aus Arbeit und Kapital einschließlich Pensionen.

Quelle: MIDEPLAN (1998), Cuadro 7.

 

Wenn man diese Rechnung akzeptiert, ergibt sich auf der Basis der Tabelle 3 für die Einkommensverteilung das folgende Bild:

 

Tabelle 4:

Einkommensverteilung der Haushalte pro Fünftel nach Einkommenstyp 1996*
(in Prozent)

 

Fünftel der Haushalte nach eigenem Einkommen*

 

Einkommenstyp

I

II

III

IV

V

Insgesamt

Eigenes Einkommen

3,8

8,0

11,8

19,2

57,2

100,0

Geldeinkommen

4,2

8,2

11,8

19,1

56,7

100,0

Gesamteinkommen

6,3

9,1

12,3

18,7

53,6

100,0

* Häusliche Bedienstete mit ihren Angehörigen sind nicht einbezogen.

** Das eigene Einkommen entspricht dem Einkommen aus Arbeit und Kapital einschließlich Pensionen.

Quelle: MIDEPLAN (1998), Cuadro 8.

 

Wenn man sich nun die Frage stellt, welche Möglichkeiten überhaupt zur Debatte stehen, die Einkommensverteilung wesentlich zu verändern, so ist erst einmal davon auszugehen, daß die bis hierher genannten Subsidien offensichtlich nicht dazu geeignet sind, eine wirkliche Verbesserung zu bewirken. Die unter Geldsubsidien zusammengefaßten staatlichen Zahlungen für Notrenten, Kindergeld und Sozialhilfe stellen allenfalls einen Tropfen auf den heißen Stein dar und steigern, wie man sieht, die eigenen Einkommen des ärmsten Fünftels nicht einmal um zehn Prozent.

Mit der sogenannten “Modernisierung” der Altersversicherung von 1981, nämlich der Umstellung  von einem nach dem Solidarprinzip organisierten, weitgehend staatlichen Umlageverfahren auf ein rein privatwirtschaftliches System individueller Kapitalbildung wurde überdies verhindert, daß in Zukunft jemals Umverteilungseffekte im Rentensystem wirksam werden. Im Gegenteil hat der Staat aus Steuermitteln nach der Umstellung die kostspieligen Zahlungen für die derzeitigen Rentner fortzuführen, ohne über entsprechende eigene Einnahmen aus der Rentenversicherung zu verfügen. Der größere Teil dieser Zahlungen kommt sogar den reichsten 40 Prozent der Bevölkerung zugute und erscheint in den obigen Tabellen unter “eigene” Einkommen (vgl. Wiebe/Leinhos 1994, S. 118 und Beyer 1997, S. 21).

Wenn man nicht nur die staatlichen Subsidien für das Bildungs- und Gesundheitswesen in ihrer Wirkung auf die Einkommensverteilung betrachtet, sondern die längerfristige Wirkung dieser Sektoren ins Auge nimmt, so verändert sich auch hier das Bild beträchtlich. Der Zugang zu höheren Einkommen – aus Arbeit und Kapital – hängt, wie man weiß, ganz entscheidend von dem jeweils erreichten Bildungsniveau ab, das sowohl von der Qualität der Ausbildung, als auch von der Höhe des Abschlusses bestimmt wird. Wenn die Ausgaben des privaten Bildungswesens pro Schülerin und Schüler siebenmal so hoch sind wie im öffentlichen Bildungssektor, so schlägt sich das zwangsläufig in größeren Chancen für diejenigen nieder, die sich einen Besuch privater Schulen leisten können. Besuchen beispielsweise noch etwa 70 Prozent der Oberschülerinnen und Oberschüler öffentliche Sekundarschulen, so geht dieser Anteil beim Übergang auf die Universitäten zugunsten der Absolventen von Privatschulen auf 30 Prozent zurück. Ähnlich wirkt sich die Teilung des Gesundheitswesens in ein öffentliches und ein privates System aus. Die in der Regel reicheren Mitglieder der privaten Krankenversicherungen können mit doppelt so hohen Ausgaben für ihre Gesundheit und einer entsprechend besseren Versorgung rechnen. Während das Bildungs- und das Gesundheitswesen früher auch dem Solidaritätsprinzip genügen und größere Chancengleichheit befördern sollten, erweist sich ihre jetzige Organisation als ein Mittel zur Zementierung der herrschenden Unterschiede (vgl Faletto 1999, S. 30, PNUD 1998, S. 155ff.).

Die Einkünfte der unteren 60 Prozent der Haushalte stammen zu etwa 60 Prozent aus Löhnen und Gehältern und zu etwa 20 Prozent aus dem Ergebnis selbständiger Arbeit, während die Löhne und Gehälter bei der Einkommensschicht der  obersten 20 Prozent nur noch etwa 35 Prozent ausmachen. Diese oberste Gruppe ist auch die einzige, in der die Einkünfte aus Kapitalerträgen mit 23 Prozent ernsthaft zu Buche schlagen (Beyer 1997, S. 21). Daraus ergibt sich, daß ohne Erhöhungen der Reallöhne über die erreichte Produktivitätssteigerung hinaus kaum eine ernsthafte Verbesserung der Einkommensstruktur denkbar ist. Nun haben sich aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten Verschiebungen ergeben, die eine solche Entwicklung immer unwahrscheinlicher machen. Der Anteil der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Sektor, in dem die Beschäftigungsbedingungen in der Regel stabiler waren, ist stark gesunken. Gleichzeitig hat sich der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich auf Kosten der Industriearbeiterschaft stark erhöht, und das ging Hand in Hand mit einem Anstieg der Zahl derer, die “auf eigene Rechnung” arbeitet oder in sehr kleinen Betrieben einen meist relativ unsicheren Job findet. Auch wird es in den Betrieben immer häufiger üblich, Beschäftigungen durch “Unterverträge” abzulösen und so die Lohnabhängigen in “Selbständige” mit eigenem Risiko zu verwandeln. Alle diese Veränderungen haben die von der unternehmerfreundlichen Arbeitsgesetzgebung ohnehin unterhöhlte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften weiter geschwächt. So sind heute nur noch zehn bis zwölf Prozent der Lohnabhängigen überhaupt an Tarifverhandlungen beteiligt oder von ihnen betroffen (vgl. Faletto 1999, S. 30ff.).

Die Politik der Concertación, der Regierungskoalition aus Christdemokraten und Sozialisten, hat zwar den sozialen Ausgleich zum Programm erhoben, sie hat aber die Tradition der Militärdiktatur fortgesetzt, die darin bestand, die Entwicklung der Einkommensstruktur im wesentlichen den Kräften des Marktes zu überlassen und Erfolge im Kampf gegen die Armut zunächst und vor allem durch hohes Wirtschaftswachstum zu suchen und dafür den Unternehmen die von ihnen geforderten Voraussetzungen zu schaffen. Mehr noch: Die Concertación hat sich praktisch damit abgefunden, daß der Staat über keinerlei Mittel mehr verfügt, auf die Einkommensstruktur bestimmenden Einfluß auszuüben.

Wenn die linke Opposition eine wesentliche Steigerung der Mittel für sozialpolitische Zwecke verlangt, so könnten diese Mittel nur nach weitreichenden Reformen überhaupt eine Wirkung entfalten. Die rechte Opposition dagegen beklagt die mangelnde Effizienz – zu geringe “Fokussierung” – der vom Steuerzahler finanzierten sozialpolitischen Ausgaben. Nach ihrer Meinung könnte mit noch weniger Mitteln mehr erreicht werden.

Unsicherheit, Unzufriedenheit, Unbehagen

Im  Jahr 1998 ist unter dem Titel “Menschliche Entwicklung in Chile – 1998. Paradoxien der Modernisierung” eine Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP, PNUD), erschienen, die viel Aufsehen erregt hat. In dieser Studie wurde nämlich festgestellt, daß trotz enormer objektiver Fortschritte beim Wirtschaftswachstum, bei den Reallöhnen, bei der Bekämpfung von Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut in den letzten Jahren bei vielen Menschen in Chile eine starke subjektive Unsicherheit entstanden ist, die sich mindestens in Teilen aus einem wachsenden Mißtrauen in das Funktionieren der gesellschaftlichen Subsysteme speist. Die empirischen Ergebnisse der Studie haben gezeigt, daß nicht nur objektiv ein ungleicher Zugang zu Beschäftigung, Konsum, Erziehung, Gesundheit und Altersversicherung besteht, sondern daß diese ungleiche Verteilung der Chancen und Risiken auch subjektiv von den Befragten wahrgenommen wird. Mit Ausnahme der Oberschicht fürchtet die Mehrheit der Befragten, nicht in der Lage zu sein, die Chancen, die von der Entwicklung geboten werden, zu nutzen und sich ausreichend gegen ihre Risiken absichern zu können (PNUD 1998, S. 24). Daraus resultiert ein verbreitetes diffuses Unbehagen, das sich allerdings nicht in der Forderung nach gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen auszudrücken vermag. Im Gegenteil: Die Politik insgesamt ist in den Ruf gekommen, daß sie nichts verändern kann und will. Nicht anders lassen sich die Tatsachen erklären, daß sich in den letzten Jahren eine Million Jugendlicher nicht mehr in die Wahllisten eingeschrieben hat und daß 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler bei den letzten Parlamentswahlen im Dezember 1997 ungültige Stimmzettel abgegeben haben.

Die eigentliche Probe für das Modell der chilenischen Bekämpfung von Armut und Ungleichheit steht noch aus. In den letzten 13 Jahren hat ein sehr schnelles Wirtschaftswachstum eine Senkung des Anteils der Armen an der Bevölkerung möglich gemacht, ohne an der strukturellen Ungleichheit irgend etwas zu ändern. Bei der gesellschaftlichen Übermacht der Unternehmerseite, die das Militär mit seiner verfassungsgeschützten Vetomacht im Zweifelsfall immer auf seiner Seite weiß, und bei der Selbstzufriedenheit der Concertación würde ein Rückgang des Wirtschaftswachstums unter den gegebenen Umständen einen Wiederanstieg der Armut und eine Situation noch stärkerer Ungleichheit zwischen den Einkommensklassen herbeiführen. Alternativen werden nicht angeboten.

Literatur

Alexis Guardia Basso (1996), El Invitado de Piedra: La Distribución del Ingreso, Santiago

Harald Beyer (1997), Distribución del ingreso: antecedentes para la discusión, in: Estudios públicos Nr. 65, Santiago, S. 5ff.

CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) (1990), Transformación productiva con equidad. La tarea prioritaria de América Latina y el Caribe en los años noventa, Santiago

Dante Contreras (1996), Pobreza y desigualdad en Chile, in: Estudios públicos Nr. 64, San­tiago, S. 57ff.

Enzo Faletto (1999), Panorama Social, in: Departamento de Sociología, Universidad de Chile, Análisis del Año 1998. sociedad - política – economía, Santiago, S. 27ff.

José de Gregorio und Oscar Landerretche (1998), Equidad, distribución y desarrollo integra­dor, in: René Cortázar und Joaquín Vial (Hrsg.), Construyendo Opciones. Propuestas eco­nómicas y sociales para el cambio de siglo, CIEPLAN, Santiago 1998, S. 151ff.

Luis Felipe Jiménez und Nora Ruedi, Algunos factores que inciden en la distribución del ongreso en Chile, 1987-1992,. Un análisis descriptivo, CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe), Santiago

Arturo León und Javier Martínez (1998), La Estratificación Social Chilena hacia fines del Siglo XX, Santiago (Manuskript)

Nora Lustig (1993), Medición de la pobreza y de la desigualdad en la América latina. El Emperador no tiene ropa, in: Trimestre económico, México, S. 200ff.

Manuel Marfán, Reflexiones teóricas sobre crecimiento y equidad, in: Colección Estudios CIEPLAN Nr. 37

MIDEPLAN (Ministerio de Planificación y Cooperación) (1988, 1991, 1993, 1995, 1997), Encuestas de Caracterización Socioeconómica Nacional (CASEN), Santiago

MIDEPLAN (Ministerio de Planificación y Cooperación) (1998), Distribución e impacto distributivo del gasto social en los hogares 1996, Santiago

PNUD (Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo) (1998), Desarrollo Humano en Chile 1998. Las Paradojas de la Modernización, Santiago 1998

Jacobo Schatan W. (1998), El saqueo de América Latina, LOM, Santiago

Nicola Wiebe und Luten Peer Leinhos (1994), Verteilungspolitik in Chile – Erfolge und Mißerfolge der ersten demokratischen Regierung nach Pinochet, in: Freie Universität Berlin, Institut für Soziologie und Lateinamerika-Institut (Hrsg.), “En la medida de lo posible”. Die chilenische Demokratisierung im Rahmen des Möglichen, Berlin