Markt in den Köpfen
Lateinamerika. Analysen und Berichte Band 17
Horlemann Verlag Bad Honnef 1998 · ISBN 3-927905-80-1
(herausgegeben von D. Dirmoser, W. Gabbert, B. Hoffmann, A. Koschützke, K. Meschkat, C. Müller-Plantenberg, U. Müller-Plantenberg, E. von Oertzen und J. Ströbele-Gregor)
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Inhaltsverzeichnis
Editorial 7
Markt in den Köpfen
I Analysen 15
Urs Müller-Plantenberg: 17
Die CEPAL und der Neoliberalismus
Juan Gabriel Valdés: 36
Die Chicago-Schule; Operation Chile
Wolfgang Gabbert: 61
Vom »Wohlfahrtsstaat« zum Sozialen Liberalismus
Sergio Zermeño: 76
Die Intellektuellen und der mexikanische Staat
im verlorenen Jahrzehnt
Rainer Dombois: 95
Vom Patriarchen zum Managerprofi. Arbeitswelt und neoliberale Wende in Kolumbien
Enzo del Bufalo: 115
Neoliberale Anpassung und struktureller Wandel in VenezuelaFranz J. Hinkelammert: 130
Markt ohne Alternative?
Georg Blume: 144
Es blüht ein Kirschbaum in den Anden
Japan wird am Wiedererstarken Lateinamerikas einen großen Anteil tragen
II Berichte 151
Thomas Fatheuer: 153
Brasilien: Die Bruchlandung der Take-Off-Träume
Wolfgang Schmidt: 167
Ecuador oder Wie der Ölreichtum sich in Armut verwandelt
Ralf Oetzel: 177
Guatemala: Enklave des Kalten Krieges
Siegfried Kastl: 188
Das Strukturanpassungsprogramm für Honduras und die Auswirkungen auf den Schutz und die Nutzung der Wälder
Claus Füllberg-Stolberg und Bettina Grote: 197
Jamaica am Ende der Ära Manley
Ciro Krauthausen: 207
Zurück in die Gegenwart: Kolumbien im Jahr 1992
Bert Hoffmann: 217
Kuba: Von der Schwierigkeit, das Trojanische Pferd zu füttern,ohne von ihm gefressen zu werden
Ralf Leonhard: 228
Nicaragua: Auf der Suche nach dem verlorenen Konsens
Jürgen Weller: 238
Panama: Modell Singapur für eine Ein-Drittel-Gesellschaft
Dietmar Dirmoser: 250
Peru 1993: Wir bauen uns einen autoritären Staat
Dorothea Melcher: 264
Heiße Tage in Venezuela
Editorial: Markt in den Köpfen
Von der real existierenden Marktwirtschaft in Lateinamerika handelte schon der vorletzte Band dieser Reihe. Diesmal geht es nicht in erster Linie darum, wie neoliberale Wirtschaftspolitik in allen Teilen des Subkontinents durchgesetzt wird, sondern um die Ideologien, die solche Veränderungen vorbereiten, begleiten, rechtfertigen. Daß die vom Internationale Währungsfonds (IWF) dekretierten Maßnahmen den letzten Winkel Lateinamerikas erfassen, scheint uns weniger erklärungsbedürftig als die Tatsache, daß viele seiner einstigen Kritiker, darunter manche der renommiertesten Köpfe einer linken Intelligenz, den »Sachzwang Weltmarkt« heute nicht nur akzeptieren, sondern sogar propagieren.
Wir dürfen aber den Leserinnen und Lesern versichern, daß sie es in diesem Band nicht nur mit Ideologien und ideologischen Gefechten zu tun haben werden. Die Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, auf die sich der Streit der Ideen bezieht, werden wie stets in den Länderberichten analysiert, aber auch in einigen Artikeln des ersten Teils, die Auswirkungen neoliberaler Politik in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen exemplarisch ausgewählter Länder nachzeichnen.
Unsere Länderberichte und Analysen sprechen jedenfalls gegen den oberflächlichen Optimismus in Hinblick auf die Gesamtentwicklung Lateinamerikas, wie er in letzter Zeit in der Presse wieder laut wird. Glaubt man den Publikationen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (CEPAL) oder der Interamerikanischen Entwicklungsbank, so scheint heute das Schlimmste überstanden: nach dem verlorenen Jahrzehnt der achtziger Jahre gibt es für den Subkontinent wieder positive Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (1991 3,5 Prozent; 1992 2,4 Prozent), und die nach diesem Maßstab positive Wirtschaftsentwicklung wird als erstes Ergebnis erfolgreicher Strukturanpassungsmaßnahmen gewertet. Einer durch die Wende zur Marktwirtschaft bewirkten ökonomischen Gesundung soll auch eine Stabilisierung der demokratischen Regime entsprechen: die Rückkehr zur Demokratie erscheint irreversibel, weil die Wirtschaft gedeiht.
Was wir in diesem Band über einzelne Länder erfahren, kann solchen Optimismus allerdings nicht rundherum bestätigen. Das größte Land Südamerikas, nach Fläche und Bevölkerungszahl immerhin fast die Hälfte des Subkontinents, steckt in der tiefsten Wirtschaftskrise seiner jüngsten Geschichte; es stellt geradezu ein Beispiel neoliberaler Politik ohne Stabilisierungserfolge dar. Im Länderbericht Brasilien heißt es: »Der Neoliberalismus bleibt den Beweis schuldig, daß seine einfachen Rezepte komplexe Gesellschaften wie die Brasiliens mit einer diversifizierten Produktionsstruktur tatsächlich umgestalten können. Eine bloße Entfesselung des Marktes ohne Industrie- und Sektorpolitiken mit bewußter Staatsintervention kann nur niederreißen, aber kaum etwas aufbauen.«
Verheerende Folgen der Durchsetzung neoliberaler Prinzipien werden auch in vielen anderen Länderberichten dieses Bandes deutlich. Die Spaltung der Gesellschaft in eine Minderheit, die sich schamlos und mit bestem Gewissen bereichert, und eine in immer tieferes Elend absinkende Mehrheit ist eine offenbar unvermeidliche Folge von Deregulierung und Privatisierung. Manchmal wird eine solche Politik von denen besonders konsequent exekutiert, die zuvor als Bannerträger wirtschaftlicher Unabhängigkeit aufgetreten waren: die Wandlungen Michael Manleys werden im Jamaika-Bericht eindrucksvoll geschildert. Manley ist kein Einzelfall. Der »Sachzwang Weltmarkt« hat auch andere politische Kräfte umgepolt, die zuvor als Träger wirtschafts- und gesellschaftlicher Alternativen erschienen waren: So begann der Machtverlust der Sandinisten, deren problematische neue Rolle unser diesjähriger Länderbericht zeigt, schon lange vor ihrer Wahlniederlage mit der Übernahme von Elementen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Die F6kologischen Begleiterscheinungen neoliberaler Politik kommen in unserem Band an mehreren Stellen zur Sprache: die »Ausbeutung der Natur als ökonomische Perspektive« wird im Bericht über Ecuador demonstriert; sie steht auch im Mittelpunkt des Honduras-Berichts, der in den Blick bringt, wie Waldzerstörung und Strukturanpassung zusammenhängen.
Daß die Folgen rabiat durchgesetzter Strukturanpassungsmaßnahmen die Grundlagen einer politischen Demokratie untergraben können, zeigen die Vorgänge des letzten Jahres in Venezuela und Peru. In Venezuela, das lange als Beispiel einer gefestigten demokratischen Regimes galt, hat die wirtschaftliche Schock-Politik des Präsidenten Carlos Andrés Pérez nicht nur seinen eigenen politischen Niedergang eingeleitet, sondern auch die von breiten Bevölkerungskreisen unterstützten Putschversuche von Teilen des Militärs provoziert. (In einer weiterführenden Analyse im Artikelteil vertritt Enzo del Bufalo allerdings die Ansicht, daß nicht die Strukturanpassungspolitik selbst, sondern eher ihre inkompetente und inkonsequente Durchführung zur Katastrophe des herrschenden Regimes geführt habe.) Im Falle Perus liegt der Zusammenhang zwischen der Wirtschaftspolitik des Präsidenten Fujimori und der Abschaffung einer pluralistischen Demokratie offen zutage.
Andere Länderberichte stehen in einem eher mittelbaren Zusammenhang zu unserem übergreifenden Thema: In Guatemala beherrscht immer noch die Mißachtung der Menschenrechte die Politik des Landes, in Kolumbien der Drogenhandel, in Panama liegen - vor allem durch die Kanalzonen-Problematik - besondere Bedingungen vor, die eine einfache Anwendung von IWF-Rezepten ausschließen.
Kuba schließlich stellt schon deshalb einen Sonderfall dar, weil die Einfügung in den Weltmarkt, deren Problematik immerhin am Ausbau des Tourismus-Sektors gezeigt wird, durch den Wirtschaftsboykott der Vereinigten Staaten behindert wird.
Es könnte nun eingewandt werden, daß dieses negative Bild der Auswirkungen des Neoliberalismus in lateinamerikanischen Ländern vor allem deshalb zustande kommt, weil wir die positiven Beispiele erfolgreicher Stabilisierungspolitik unterschlagen: Chile, Bolivien und Mexiko, in jüngster Zeit auch Argentinien. In der Tat sind die positiven Durchschnittswachstumsraten für Lateinamerika ohne diese Länder nicht denkbar. Aber unsere Auslassungen haben Gründe: der neue argentinische Boom hat sich schon durch die Wirtschaftspolitik angedeutet, die wir im Vorjahr dargestellt haben, man könnte ihn allenfalls durch ein breites Sittengemälde der schamlosen Bereicherung einer Minderheit ausbauen, peronistische Kleptokratie unter neoliberaler Flagge, wohl kaum als Vorbild für den Kontinent geeignet. Bolivien könnte als Beispiel für die Segnungen des Neoliberalismus kaum besser dienen, nicht nur wegen des Elends seiner Bevölkerungsmehrheit, sondern vor allem deshalb, weil die Stabilisierung auch der Währung ohne das bekannte Exportgut nicht denkbar wäre, das in keiner offiziellen Statistik auftauchen darf, nämlich Coca.
Schließlich Chile, das Modell - und Musterland aller Apologeten neoliberaler Segnungen. Es fehlt in diesem Bande eigentlich nur, weil von Chile schon in den Artikeln von Juan Gabriel Valdés und Urs Müller-Plantenberg ausgiebig die Rede ist. Bei aller Faszination durch den Wirtschaftsboom der letzten Jahre können auch die Fürsprecher des wieder »besonderen« chilenischen Wegs kaum bestreiten, daß das gesamte Exportmodell auf einer rücksichtslosen Ausplünderung der Naturressourcen des Landes und Überausbeutung der neuen Sektoren der Arbeiterschaft, zum Beispiel der Saisonarbeiterinnen in der Fruchtindustrie, beruht.
Auch im Artikelteil beschäftigen sich zwei Beiträge mit den konkreten Verhältnissen bestimmter Länder. Wolfgang Gabbert geht der Frage nach, wie in Mexiko die dort relativ erfolgreiche neoliberale Wirtschaftspolitik mit einer bestimmten Sozialpolitik und einer entsprechenden Ideologie vereinbar ist. Der mexikanische Fall zeigt eindrucksvoll, wie eine sehr konsequente, forcierte Politik von Privatisierung und Staatsabbau durchaus einhergehen kann mit gezielten sozialpolitischen Maßnahmen, die das Los der Ärmsten der Armen verbessern sollen und dies für bestimmte Sektoren auch erreichen, was für die politische Stabilisierung des Regimes unverzichtbar ist.
Rainer Dombois thematisiert auf der Grundlage seiner langjährigen Forschungen die Auswirkungen der neoliberalen Politik in Kolumbien auf die Gestaltung der industriellen Beziehungen. Kolumbien belegt, daß in einem lateinamerikanischen Land die Durchsetzung einer neoliberalen Politik in der Regel auch mit der Entmachtung und Entrechtung der Gewerkschaften, nicht etwa mit ihrer Einbeziehung in einen von gutmeinenden Intellektuellen immer wieder geforderten Sozialpakt, einhergeht.
Die beiden materialreichen Aufsätze sind geeignet, zwei grundsätzliche Mißverständnisse über neoliberale Politik auszuräumen: das eine, daß sie in jedem Fall auf eine Abschaffung von Sozialpolitik hinausläuft, das andere, daß Forcierung von Marktwirtschaft zwangsläufig etwas mit Konzertierung zwischen den Sozialpartnern, im Sinne der Herstellung einer sozialen Marktwirtschaft, zu tun haben muß.
Damit nun endlich zurück zum zentralen Thema unseres Bandes, zu den Kämpfen im Reich der Ideen. Die »Metamorphose der lateinamerikanischen Intellektuellen« ist schon vor Jahren von James Petras ins Gespräch gebracht worden (Lateinamerika Analysen und Berichte, Band 13, 1989, S. 166 ff.). Seine Beschreibung des Phänomens trifft wohl noch immer zu, seine Erklärung der Neuorientierung der lateinamerikanischen Sozialwissenschaftler aus ihrer Einbindung in einen außenfinanzierten Wissenschaftsbetrieb ist nicht überzeugender geworden. Die kürzliche Nach-Debatte zwischen Carlos Vilas und James Petras (in: Nueva Sociedad Nr. 123, Januar/Februar 1993, S 165ff.) verrät viel über die Denkweise beider Kontrahenten, trägt aber kaum zu einer vertieften Analyse des Gesinnungswandels einer einstmals kritischen Intelligenz bei. Wir wollen in diesem Band einige Autoren zu Worte kommen lassen, die uns genauer zeigen, wie das Bewußtsein der Herrschenden zu einem heute unter den Intellektuellen vorherrschenden Bewußtsein werden konnte.
Dabei soll die von James Petras bevorzugte Ebene der bewußten Durchsetzung einer bestimmten Ideologie nicht vernachlässigt werden. Wir drucken deshalb ein Kapitel aus dem bemerkenswerten Buch von Juan Gabriel Valdés (»La Escuela de Chicago: Operación Chile«, Buenos Aires 1989) ab. Hier wird im Detail nachgewiesen, auf welchen Wegen die heute in Chile nur noch von wenigen Außenseitern zurückgewiesene Denkweise des Neoliberalismus in dieses Land gelangt ist, nämlich in der Form eines gezielten »Ideentransfers«, der den durch den Militärputsch geschaffenen Zuständen zu einem ideologischen Überbau verhalf. Die Analyse von Valdés ist deshalb mustergültig, weil er keine Verschwörungstheorie zu Hilfe nehmen muß, um zu zeigen, wie bestimmte Konzepte planmäßig in den chilenischen »Ideologienmarkt« eingeführt wurden.
Mit diesem historischen Rückblick ist freilich nicht erklärt, warum in Chile ehemalige Kritiker eines von der Rechten importierten Neoliberalismus heute selbst, implizit oder zuweilen recht explizit, zu Verfechtern neoliberaler Politik geworden sind. Urs Müller-Plantenberg berührt dieses Thema in seiner Analyse der »Wende« im Denken der CEPAL, deren jüngste, von vielen als Alternative gepriesenen Programmschriften, wie er zeigt, auf die Übernahme neoliberaler Grundpositionen hinauslaufen.
Ein für diese Fragestellung wichtiger Beitrag zur Soziologie der Intellektuellen stammt aus der Feder eines mexikanischen Sozialwissenschaftlers. Sergio Zermeño zeichnet die Wege einer kritischen Intelligenz in Mexiko im zurückliegenden Jahrzehnt nach, seine Analyse einer in »Integrierte« und »Ausgegrenzte« gespaltenen Gesellschaft bietet einen berzeugenden Bezugsrahmen, um das widersprüchlich erscheinende Verhalten der Mehrheit der mexikanischen sozialwissenschaftlichen Intelligenz zu deuten, bis hin zu ihrem neuerlichen Verzicht auf eine Identifizierung mit der neocardenistischen Opposition und der Wiederannäherung an das heute herrschende Regime. Zermeño bietet auch Ansätze zu einer Ideologiekritik im engeren Sinne, wenn er wesentliche Züge des »abhängigen Neoliberalismus« prägnant charakterisiert. Diese ideologiekritische Dimension unseres Themas wird von Franz Hinkelammert vertieft, wobei er sich auf einen entscheidenden Aspekt beschränkt: er prüft die Implikationen der Behauptung, daß es zur Anpassung an die Gesetze des Weltmarktes keine Alternative gäbe. Hinkelammert beschreibt die strukturelle Ähnlichkeit dieser Denkfigur mit der des Stalinismus, der ebenfalls Alternativen zu seiner »Wirklichkeit« nicht zuließ, und er zeigt die selbstzerstörerischen Konsequenzen dieser angeblich realistischen Position.
Immer noch bleibt die Frage, wie die neoliberale Ideologie in so viele Köpfe gelangt - auch in die Köpfe derer, die einmal angetreten waren, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung zu erkämpfen. Man darf sich die Antwort nicht leicht machen: eine krude Ableitung der Ideologieproduktion aus den unmittelbaren Interessen der Ideologieproduzenten, wie sie Petras vorschlägt, greift sicher zu kurz. Es gibt vielfältige Gründe dafür, die neoliberale Denunziation staatlicher Reglementierung mit offenen Ohren zu vernehmen, und der Zusammenbruch der osteuropäischen Systeme, die sich vermessen »sozialistisch« nannten, spielt dabei sicher eine wichtige Rolle. Wir hier in Europa haben uns sicher nicht genügend klargemacht, wie stark der Bezug auf die vorgebliche »Alternative« der Sowjetunion oder anderer kommunistischer Staaten auch bei lateinamerikanischen Intellektuellen war, die sich nicht von Moskau oder Peking gängeln ließen; und wir haben zu oft die unterschiedliche Sichtweise ignoriert: Lateinamerikaner hatten gute Gründe, die Existenz von Regimen gutzuheißen, die der Allmacht des nordamerikanischen Unterdrückers Schranken zu setzen vermochten und die in bestimmten Situationen auch praktische Hilfe mobilisieren konnten. Die Rede vom »Zusammenbruch des Sozialismus« geht deshalb vielen lateinamerikanischen Linken leichter von den Lippen als uns, weil eben doch potentielle Bundesgenossen einfach verschwunden sind - und der Anschluá an den neoliberalen Sieger scheint vielen eine folgerichtige Konsequenz aus der so gedeuteten totalen Niederlage.
Gründe für die Anfälligkeit gegenüber neoliberalen Ideologien liegen aber auch in der berechtigten Kritik am real existierenden Staat in Lateinamerika: Wer wollte leugnen, daß Staaten - ganz abgesehen von ihren repressiven Funktionen - auch sonst kaum als Hilfe für die Schwachen erscheinen? Wer kann sich nicht entrüsten über das Auswuchern eines parasitären Staatsapparates, dessen Repräsentanten für die Bevölkerung nichts als Willkür, Inkompetenz und Ineffizienz verkörpern? So schienen es viele Linke geradezu zu begrüßen, wenn neoliberale Strukturanpassungsmaßnahmen endlich jenes »Zerschlagen des Staatsapparats« in die Wege leiten, das die Revolutionäre mit ihren Anläufen nicht erreicht hatten.
Wenn Ideologieproduktion an unbestreitbare Momente der Wirklichkeit anknüpfen muß, um wirksam zu sein, so ist sie gleichwohl genötigt, andere Momente der gesellschaftlichen Realität zu verzerren oder zu ignorieren. Es ist bezeichnend, daß die Apologeten des Neoliberalismus gern von Demokratie (im normativen Sinne) reden, selten aber von Demokratie in der Wirtschaft, deren reales Funktionieren sie lieber ausblenden. So werden Fragen nicht einmal mehr gestellt, die viele Jahre lang von lateinamerikanischen Sozialwissenschaftlern systematisch erforscht wurden: was ist eigentlich aus dem transnationalen Kapital geworden, das ganze Wirtschaftssektoren der abhängigen Länder dominiert? Ist es vollkommen selbstverständlich, daß man mit allen Mitteln Auslandskapital anlocken muß und jede Beschränkung und Kontrolle schon deshalb abzulehnen ist, weil man sonst beim Wettlauf um die Gunst der Multis ins Hintertreffen gerät? Ist die Herausbildung wirtschaftlicher Machtgruppen (auch des einheimischen Kapitals) unerheblich geworden? Darf man ignorieren, daß Marktwirtschaft in Wirklichkeit durch Monopole außer Kraft gesetzt wird? Sind dies alles nur Fragen von vorgestern, oder hat das systematische Ausblenden der Analyse wichtiger Bereiche des Wirtschaftslebens durchaus Methode, damit die Frage nach Alternativen gar nicht erst aufkommen kann?
Das Ausblenden gelingt umso leichter, als die Entwicklung der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften in extremer Weise Moden unterworfen ist. Dies unterscheidet sie freilich nicht grundsätzlich von den intellektuellen Moden, denen wir alle in postmodernen Zeiten ausgeliefert sind. Unterschiede gibt es lediglich bei der geradezu zwanghaften Außenorientierung - vor allem am französischen Vorbild - und auch bei der Geschwindigkeit, mit der bestimmte Probleme flüchtig diskutiert und dann gleich wieder der Vergessenheit überantwortet werden. Dies hat natürlich mit den Produktionsbedingungen zu tun, auf die Petras hinweist: Wenn die Mehrheit der lateinamerikanischen Sozialforscherinnen und Sozialforscher in privaten Instituten von außenfinanzierten Projekten abhängen, so liegt es nahe, daß sie sich dem zuwenden, was jeweils »in« ist: soziale Bewegungen zum Beispiel sind es nur für eine bestimmte Zeit, dann werden sie einfach nicht mehr untersucht und verschwinden so aus dem Blickfeld, schon ist der nächste Modegegenstand da: vielleicht die Demokratie, die Zivilgesellschaft, die ökologische Sensibilisierung... alles möglichst nicht länger als einige Monate. Und unter einer Bedingung: die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge, die das Idealbild einer nirgends existierenden stabilen Demokratie mit freier Marktwirtschaft stören könnten, werden nicht erforscht, und wer sich mit ihnen beschäftigt, gilt als Außenseiter oder Steinzeitsozialist. (So ist es zum Beispiel nicht zufällig, daß von der lateinamerikanischen Politologie die wirklichen Probleme funktionierender Demokratie, zum Beispiel das Innenleben der Parteien mit ihrem Fehlen innerparteilicher Demokratie, kaum untersucht werden.)
Bei dieser Schärfe der Kritik ist einem Mißverständnis vorzubeugen: Wir sprechen von lateinamerikanischen Intellektuellen, weil wir ein Lateinamerika-Jahrbuch machen, nicht deshalb, weil wir auf abtrünnige Lateinamerikaner mit Fingern zeigen möchten. Allerdings sind wir verblüfft oder enttäuscht, wenn wir langjährige Weggefährten, Kolleginnen, Forschungspartner ganz unvermutet im neoliberalen Gewande wiedertreffen; doch ähnlich ging es uns ja auch hier zu Zeiten des Golfkrieges, als bewährte Wortführer einer unabhängigen Linken in Deutschland plötzlich als Befürworter der Kriegspolitik eines George Bush auftraten. Und natürlich sprechen wir hier nicht von allen oder auch nur den meisten lateinamerikanischen Intellektuellen, denn jede und jeder von uns kennt und schätzt viele Freundinnen und Freunde, die eine andere, solidarische Gesellschaft noch anstreben und zäh an ihrer Verwirklichung arbeiten.
Ohne diese Gleichgesinnten in Lateinamerika könnten wir das Jahrbuch gar nicht fortsetzen. Wir wollen uns weiter die Fragen stellen, die von den Apologeten des Bestehenden beiseite geschoben werden, und Probleme bearbeiten, die nicht im Modetrend liegen, selbst wenn damit ein Jahrbuch wie das unsere kein Kassenschlager wird. Wir sind dem LIT-Verlag sehr dankbar dafür, daß er mit der Produktion der letzten beiden Bände die Kontinuität einer seit 1977 existierenden Buchreihe garantiert hat. Es war ein vereinbarter Versuch auf Probe, und wenn wir ihn nach reiflichem Überlegen angesichts der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Herausgeberinnen und Herausgeber einerseits und des Verlages andererseits beenden, ändert das nichts an der wechselseitigen Wertschätzung. Unser Jahrbuch wird fortan vom Verlag Jürgen Horlemann betreut, wir hoffen, schon mit diesem Band im neu/alten Gewand einen guten neuen Schritt zu tun.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber
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