Jenseits des Staates

Lateinamerika. Analysen und Berichte Band 18

Horlemann Verlag Bad Honnef 1994 · ISBN 3-89502-008-7

(herausgegeben von D. Dirmoser, W. Gabbert, B. Hoffmann, A. Koschützke, K. Meschkat, C. Müller-Plantenberg, U. Müller-Plantenberg, E. von Oertzen und J. Ströbele-Gregor)

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Inhaltsverzeichnis

Editorial 7

Jenseits des Staates?

I Analysen 21

Thomas Fatheuer:23

Jenseits des staatlichen Gewaltmonopols
Drogenbanden, Todesschwadronen und Profiteure: die andere Privatisierung in Rio de Janeiro

Albrecht Koschützke: 39

Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates

Lothar Witte: 65

Lateinamerikanische Sozialversicherung zwischen Staat und Privatisierung
Vom chilenischen Reformmodell zur kolumbianischen Reform des Modells

Juliana Ströbele-Gregor: 106

Abschied von Stief-Vater Staat -
Wie der neoliberale Rückzug des Staates die politische Organisierung der Ausgeschlossenen befördern kann

Hans Petter Buvollen und Robert Große: 131

Die Mühen der Autonomie: die Atlantikküste von Nicaragua

Ingrid Kummels: 144
Jenseits des sozialistischen Staates:
Betrachtungen einer Ethnologin zum Gegen-, Mit- und Ineinander verschiedener Weltbilder
in der kubanischen Alltagskultur

II Berichte 159

Karl-Ludolf Hübener: 161

»Ein Nest von Giftschlangen« politische Kultur»in Argentinien unter Menem

Michael Schulte und Michael Bünte: 172

Bolivien: Auf dem Weg der »zweiten Revolution«»

Hans Mathieu und Achim Wachendorfer: 182

Brasilien: Wirtschaftspläne - die Drogeder elenden Eliten

Urs Müller-Plantenberg:195

Chile: Experimente? Um keinen Preis!

Tilman Altenburg und Wolfgang Hein:206

Costa Rica - noch immer Musterland?

Ralf Leonhard: 217

El Salvador: Nach den Wahlen die Zerreißprobe

Karin Gabbert: 227

Guatemala: Vom Löwen zur Maus oder

Vom geringen Interesse der Eliten an der demokratischen Fassade

Bert Hoffmann: 237

Der Genosse Dollar und andere Überlebensstrategien des kubanischen Sozialismus

Barbara Beck und Marianne Braig: 248

Mexiko im Schatten (s)einer Revolution

Dietmar Dirmoser: 261

Peru: die Kosten der Sanierung


Editorial: Jenseits des Staates?

Das Fragezeichen im Titel kam erst im Laufe der Zusammenstellung dieses Bandes hinzu. Nicht auf den Staat, sondern auf die Räume, die nicht (mehr) von ihm besetzt sind, wollten wir blicken. Denn nach mehr als einer Dekade neoliberaler Wirtschaftspolitik in Lateinamerika ist die Gesellschaft des Kontinents nicht mehr dieselbe, hat sich das Koordinatensystem ihrer politischen und sozialen Ziele modifiziert, wurde allerorten »der Staat«, aus neoliberaler Sicht Feind Nr 1 wirtschaftlicher Entwicklung und freier Entfaltung der Marktkräfte, reduziert, »verschlankt«, begrenzt, gestutzt. War die real existierende Marktwirtschaft in Lateinamerika das Thema dieses Jahrbuches im Jahr 1991 und widmeten wir den Band des letzten Jahres dem »Markt in den Köpfen«, so gilt es diesmal abzustecken, was es denn mit dem von Neoliberalen geforderten und von Linken oft gescholtenen »Rückzug des Staates wirklich auf sich hat. Welche gesellschaftlichen und politischen Spielräume sind entstanden? Aber auch welche Leerstellen? Wer nutzt sie, und wie werden sie ausgestaltet? Welche Herrschaftsformen und Beteiligungsmöglichkeiten sind neu? Welche Zwänge entfielen oder konstituierten sich? Kurz, was geht, nach Jahren der Fixierung auf den Staat, sei es als Gegner, als Hoffnung oder als Garant gesellschaftlicher Forderungen, »jenseits« von ihm vor?

Es ist einleuchtend, daß dieser Blick definiert wird durch die Position des Betrachtenden, in diesem Fall der Leute, die diesen Band herausgegeben oder für ihn geschrieben haben. Die Analysen der hier vorgestellten Themen und Länderberichte sind daher mit einem »Faktor vor der Klammer« zu lesen, der mit jedem Einzelfall zu multiplizieren ist, um die Situation des konkreten Landes oder des spezifischen Problems einordnen und verstehen zu können. Dieser »Faktor« ist die Globalisierung, die Internationalisierung, die definitive Omnipräsenz des »Weltmarktes« als Chiffre für einen Prozeß, der heute mit unterschiedlicher Terminologie, aber grundsätzlich unbestritten eigentlich für alle politischen, sozialen und ökonomischen Konflikte und ihre Analysen als Ausgangspunkt anerkannt ist: Die Debatte über die Zukunft des »Wirtschaftsstandorts Deutschland« mit ihren weitreichenden Änderungen im sozialen und administrativen System der Bundesrepublik, die Diskussionen über Vertiefung und/oder Erweiterung der Europäischen Union, die Probleme des Aufbaus von Demokratie und Marktwirtschaft in den Transformationsländern des einstigen bürokratischen Sozialismus, die GATT-Beschlüsse über den Organisationsrahmen der Weltwirtschaft der nächsten Dekaden, die Konkurrenzsituation in der Triade, die Entwicklungsperspektiven der Dritten Welt oder die explizit als »globale Herausforderungen« begriffenen ökologischen Probleme, und natürlich auch das Thema dieses Bandes, die neuen gesellschaftlichen Dimensionen, die »jenseits des Staates« entstanden sind - es gibt kein relevantes Problem der nationalen und internationalen Agenda, das seinen Bezugsrahmen nicht als Ergebnis der beschleunigten Internationalisierung von Märkten, Macht und Meinungen, von Produktion, Kommunikation und Distribution definiert. In einem heute kaum mehr zitierten und vermutlich überhaupt nicht mehr gelesenen »Manifest« wird dieser Prozeß beschrieben:

»Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Sie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Land selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. (...) Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt (...) Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht. (...) Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse...«

Die intensivierte internationale Einbindung Lateinamerikas im Sinne einer akzentuierten Marginalisierung und Unterordnung ist eine Rahmenbedingung, die explizit oder implizit bei allen Überlegungen unseres Themas präsent ist. Die schon immer begrenzte Autonomie des lateinamerikanischen Staates bei der Bestimmung der allgemeinen Grundsätze seiner Politik ist freilich nicht erst das Ergebnis der letzten 15 bis 20 Jahre, in denen Kredit-Konditionalisierungen internationaler Finanzinstitutionen wie des Internationalen Währungsfonds und anderer zu den »Diktaten der »Anpassungspolitik« führten. Der »autonome« Nationalstaat war in der Dritten Welt fast immer eine Fiktion, in Lateinamerika erinnerten in letzter Instanz die USA mit ihren militärischen Interventionen an diese Binsenweisheit. Die Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas als von praktisch niemandem mehr in Zweifel gezogenes Prinzip der wirtschaftlichen und sozialen Organisation aller lateinamerikanischen Länder ist jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe. Diese Transformation wird aktiv nicht nur von den eigenen Eliten betrieben und propagiert; auch die Linke neigt zu prinzipienlosen Flirts, vor Wahlen mit demagogisch-populistischen oder paternalistischen Umverteilungsversprechen und nach den Wahlen mit radikaler Austeritätspolitik und neoliberaler Logik. Schließlich findet dieser Prozeß gleichzeitig auch außerhalb dieses Kontinents weltweit in fast allen Ländern statt.

Auf diese Rahmenbedingung grundsätzlich relativierter »Autonomie« des lateinamerikanischen und des Dritte-Welt-Staates ist zu achten, wenn die Beiträge dieses Bandes gelesen werden. Zumal der »reduzierte« neoliberale Staat natürlich vor allem für die multinationalen Kapitale neue Freiräume öffnet, mithin nationale Autonomie noch weiter reduziert. Aber auch darüberhinaus bleibt die Frage, welche Auswirkungen, Gefahren und Chancen der Rückzug des Staates aus vielen Bereichen hat, ambivalent.

Schon der Begriff des Rückzugs ist zu problematisieren, handelt es sich doch in den seltensten Fällen um einen »geordneten Rückzug«. Der Staat flieht teilweise - um in der militärischen Sprache zu bleiben - in bunter Unordnung und aufgelöster Schlachtordnung aus klassischen Verantwortungsbereichen. Aber auch hier gilt eine Differenzierung, denn der lateinamerikanische Staat war fast immer schon nur ein prekärer Staat: Seine physische Präsenz erstreckte sich selten auf alle Winkel des Territoriums, seine soziale Funktion nahm er immer nur selektiv und parteiisch wahr, Wohlfahrt garantierte er meistens nur denen, die schon im Wohlstand lebten, sein Bildungs- und Gesundheitssystem war nur in wenigen Ländern flächendeckend, seine Steuergerechtigkeit aus Klassenblindheit immer jämmerlich und seine Kompetenz als Entwicklungsagent immer fragwürdig. Mit dem lateinamerikanischen Staat war noch nie viel Staat zu machen. Kann er sich daher überhaupt aus Funktionen oder Regionen zurückziehen, in denen er eigentlich nie oder nur sehr begrenzt in Erscheinung trat? Was verändert sich eigentlich für die indianische Bevölkerung oder für die pauperisierten Massen, die immer schon jenseits des Staates, ohne oder gegen ihn um ihr Überleben kämpfen mußten? Ein Unterschied liegt sicher darin, daß bisherige strukturelle Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnungen, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes verwiesen werden.

Ironischerweise vollzieht sich der wirre Rückzug des Staates nach einer unübersehbaren Fülle vorgeblicher »Pläne«. Jeder Wirtschaftsminister wird in Lateinamerika zum Namenspatron eines neuen »Wirtschaftsplans«, der in Wirklichkeit ein mitunter kaum den Tag seiner Verkündung überlebendes Notstands-Maßnahmebündel ist. Die lateinamerikanischen neoliberalen Regierungen haben in den letzten zehn Jahren vermutlich mehr »Wirtschaftspläne« veröffentlicht als alle realsozialistischen Planwirtschaftsländer von der Oktoberrevolution bis zu ihrem Untergang 1989/90 zusammen. Die »Neoliberale Planwirtschaft« unterliegt dabei - wie die anderen bankrotten Planwirtschaften - dem Irrtum, Absichtserklärungen, Wenn-Dann-Beziehungen und Hochrechnungen makroökonomischer Daten bereits für Planung zu halten. Unter der DCšberschrift der Haushaltskonsolidierung, das heißt: der für die lateinamerikanischen Staaten zur Pseudodoktrin erhobenen Milchmädchenweisheit, daß der Staat nicht mehr ausgeben solle als er einnehme, werden in der Mehrzahl der Fälle vor allem jene Teile des Staatshandelns und der Staatsausgaben eingeschränkt oder aufgegeben, die (vielleicht mit Ausnahme der einstigen Sozialstaaten Argentinien und Uruguay) erst in den letzten Jahrzehnten mühsam als minimale Sozialpolitik oder Garantie allgemeiner zu schützender Interessen erkämpft wurden. Die Streichungen der angeblich all zu üppigen Sozialetats, der Mittel für Wohnungsbau und Bildungswesen, für Gesundheitsversorgung und Garantie eines Existenzminimums waren der Anfang, die Liquidation des wirtschaftlich aktiven Staates, die Veräußerung der Staatsunternehmen oder die Aufhebung staatlicher Regelungen der Wirtschaftsordnung der zweite Schritt. Es folgte die Vernachlässigung der materiellen und institutionellen Infrastruktur, alles begleitet von einem massiven Personalabbau im öffentlichen Dienst. Dabei war das Vorgehen durchaus nicht systematisch und erst recht nicht widerspruchsfrei. Die »Privatisierungen« angeblich ineffizienter staatlicher Monopolbetriebe bedeutete oft nur deren Übergabe an ausländische staatliche oder bestenfalls private Monopolbetriebe - zum Beispiel die Aufkäufe lateinamerikanischer Fluglinien durch die nicht gerade wegen ihrer Effizienz bekannte spanische Staatslinie Iberia oder die Übernahme der argentinischen Telefongesellschaft durch die staatliche spanische Telefónica, Lieblingsfeind aller telefonierenden Spanier -, die ihren Effizienznachweis jetzt freilich statt im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklung nurmehr im Sinne betriebswirtschaftlicher Rationalität erbringen müssen.

Die in der Tat gerade die Armen teuer zu stehen kommenden, extrem kostspieligen und ineffizienten bürokratischen Mammutunternehmen und mammutartigen Bürokratien in vielen Ländern liefern freilich genug Gründe, sich ihrer zu entledigen, und nur wenige, ihre Existenz zu rechtfertigen. Und die »Modernisierung« der Ökonomie und eine reduzierte, aber effiziente Staatsverwaltung haben natürlich auch für den lateinamerikanischen Normalbürger verständliche Attraktivität. Die tägliche Erfahrung mit dem korrupten, ineffizienten, populistisch-demagogischen und/oder autoritär-paternalistischen oder repressiven Staatsapparat ist die beste Propaganda für die neoliberale Kritik. In der Tat sind eine vom neoliberalen Staat ja angeblich angestrebte besser überschaubare und ein bißchen ordentlichere, sachrationale Verwaltung und eine etwas zurückgeschnittene Bürokratie, ein funktionierendes Steuersystem oder eine kostenbewußte sparsame Haushaltsführung usw. zwar nicht identisch mit Verteilungsgerechtigkeit, aber sie sind strukturelle Bedingung, ohne die eine solche Gerechtigkeit auch durch inflationäre Subventionitis nicht erreicht werden kann.

Aber es sei auch daran erinnert, daß in vielen Ländern zum Beispiel staatliche Basisindustrien unter anderem auch deshalb nicht kostengerecht arbeiteten, weil ihre Produktion die (freilich in seltensten Fällen darauf positiv reagierende nationale) Industrie subventionieren sollte, oder daß mangels einer durch Steuern, also gesellschaftlich finanzierter Arbeitslosenabsicherung der Staat als Arbeitgeber in die Bresche sprang, eine sicherlich wenig effiziente Umwegfinanzierung. Wie teuer es kommen kann, einen billigeren Staat zu haben, zeigt die konkrete Privatisierungspraxis, bei der oft die Passiva vom Staat übernommen wurden und die von sozialen, gesellschafts- oder entwicklungspolitischen Rücksichten befreiten privaten Käufer dann natürlich leichter »effizient« sein konnten.

Die Privatisierungserfahrungen erläutern, daß es hier nicht einfach darum ging, Staat und (staatliche) Betriebe effizienter zu machen. In der Existenz unter anderem auch von Staatsbetrieben drückt sich ja ein bestimmtes Verständnis von »Staat« aus, seine Verantwortung für die allgemeinen Rahmenbedingungen und Spielregeln der Gesellschaft und der Wirtschaft, seine Verpflichtung, als Vertreter des allgemeinen Interesses - zumal angesichts der sozialen Zerklüftung der lateinamerikanischen Gesellschaften - ausgleichend und kompensierend zugunsten der Benachteiligten zu wirken und über die aktuelle Gruppeninteressen hinaus langfristige und strukturelle Zielsetzungen des Entwicklungsprozesses abzusichern und zu gestalten.

Kurz, es liegt auf der Hand, daß eigentlich nicht auf »weniger« oder einen »effizienteren« Staat gezielt wird, sondern auf einen gänzlich anderen, der sich jener Definition und jener Verpflichtungen wieder entledigt, die in den demokratischen Phasen der lateinamerikanischen Staaten in Wahlen und sozialen Kämpfen den oligarchischen Eliten abgerungen oder aufgezwungen worden waren.

Denn wenn es um deren Interessen geht, bleibt Staatshandeln auch unter neoliberaler Flagge gefragt: Staatsgarantien und -übernahmen von privaten Pleitebanken in Chile ebenso wie in Venezuela oder Mexico und Brasilien kosten teilweise das Geld, das bei Sozialausgaben gerade gespart worden ist. Die Bedienung der Auslandsschuld ist Staatsziel Nummer eins, und riesige Korruptions- und Spekulationsgewinne für die politischen oder ökonomischen Eliten in Argentinien, Mexico, Venezuela, Bolivien und anderswo beweisen, daß es nicht schlechthin um Einsparungen, sondern um radikale Umgestaltung der Ausgabenprioritäten geht und daß auch der angeblich bankrotte Staat immer noch Reserven hat, die zur Plünderung durch die Eliten bereitstehen. Dabei gilt der ja auch in Europa geheiligte Grundsatz, daß verderbliche und die Systemeffizienz gefährdende Subventionen immer nur die Subventionen an andere sind, nie die, die man selbst fordert und erhält. Anders ausgedrückt: Es triumphiert derjenige, der es schafft, sein Interesse als das angeblich allgemeine durchzusetzen, als Begründung der Notwendigkeit und Legitimation des demokratischen sozialen Rechtsstaates, um Freiheit, Gleichheit und Solidarität gegen diesen Sozialdarwinismus zu garantieren.

Dieser demokratische soziale Rechtsstaat hat in Lateinamerika bisher nicht existiert. Paradoxerweise ist vielleicht das gerade der Grund dafür, daß die neoliberale »Zerfledderung« des existierenden Staates verwirrende Koalitionen und viele aktive oder zumindest resignative Befürworter findet. Die Trennungslinie geht dabei allenfalls danach, wie die klassischen Wahrnehmungen der Staatsfunktionen als Wohlfahrtsgarantie oder als Repressionsinstanz gewichtet werden. Das Problem des heute feststellbaren Rückzugs des Staates liegt jedoch, und hierauf weisen eine Reihe von Beiträgen auch dieses Bandes hin, eher in der parteiischen Vernachlässigung beider Funktionen.

Es mag naheliegen, darauf zu hoffen, daß der »Rückzug« des Staates für demokratische und autochthone Bewegungen auch zu geringerer Repression durch die Militär- und Polizeiorgane und zu größerer Freiheit führt, oder daß die teilweise Aufhebung des staatlichen Gewaltmonopols vielleicht auch Freiheit von Gewalt implizieren könne. Obwohl nur in sehr wenigen Ländern in den letzten Jahren die Mittel für den Repressionsapparat überhaupt oder gar in einem dem Sozialausgabenabbau vergleichbaren Umfang reduziert worden sind (die argentinische Demokratie hat immerhin die Streitkräfte erheblich reduziert), und obwohl aus den letzten Jahren kaum Situationen bekannt sind, in denen Streiks oder militante demokratische Kämpfe deswegen sich hätten erfolgreicher entfalten können, weil die staatliche Unterdrückungskapazität nicht ausgereicht hätte, gilt das staatliche Gewaltmonopol keinesfalls mehr als grundsätzlich intakt.

In der Tat haben verschiedentlich soziale Konflikte die staatlichen Ordnungskräfte überfordert, weniger, weil der Staat mangels Finanzkraft seine Polizei reduziert hätte, sondern weil die Art der Konflikte, ihre Dimension und ihre Dynamik grundsätzlich herkömmliche polizei- oder militärtaktische Repressionsmöglichkeiten zumindest kurzfristig übersteigt. Zwischen den dreitägigen landesweiten Plünderungen in Venezuela im Februar 1989 (»Caracazo«) und den kollektiven Wutanfällen im argentinischen Santiago de Estero im Dezember 1993 sind in den letzten Jahren eine Reihe spontaner, nicht politisch organisierter, sondern sich eher anomisch artikulierender Proteststürme zu registrieren. Die Massenbeteiligung und Militanz, Ziel- und Regellosigkeit dieser »IWF-riots« entspringen der unmittelbaren Verzweiflung und Perspektivlosigkeit, in die Menschen gestürzt werden, die nicht mehr als gesellschaftliche Individuen und Bürger, sondern nur noch als Kostenfaktoren vom Staat wahrgenommen werden. Im Sinne unserer Fragestellung nach den »Freiräumen« jenseits des Staates ließe sich behaupten, daß diese Aufstände provoziert werden durch die skandalöse Abwesenheit des Staates in Bereichen, in denen seine Ordnungs-, Orientierungs-, Ausgleichs- und Schutzfunktion Voraussetzung für das auch so nur miserable Überleben großer Teile der Bevölkerung sind; daß sie ermöglicht werden durch die Gleichgültigkeit des Staates, sich dieser Bevölkerungsgruppen anzunehmen, und daß sie liquidiert werden (im repressiv-technischen Sinn), wenn der Staat »zurückkehrt« und mit Polizeigewalt zumindest hier sein Gewaltmonopol geltend macht. Weiter verbreitet sind jene Räume, in denen staatliche Autorität in Gestalt von Polizei, Gesetz, normierter Ordnung praktisch nicht mehr existiert, also in der Sphäre der persönlichen Sicherheit, der Kriminalität und vor allem der Tätigkeit der Mafia und Drogenbanden. Sozialrebellenromantik sowie die Mythologisierung der Illegalität und der sogenannten »sozialen Aktivitäten« der Drogenbosse darf nicht den Blick dafür verstellen, daß die Finanzierung von Fußballklubs, Schulen und Krankenhäusern, von Festen, Straßen und Landepisten »jenseits des Staates« durch die Drogenpaten antidemokratische Klientelstrukturen reproduziert und auf einer physischen Gewaltherrschaft brutalster, personalisierter und absolut willkürlicher Art basiert. Mafia, bewaffnete Banden (zum Beispiel ehemaliger Soldaten in Nicaragua) und neue Beziehungen zwischen politischen und kriminellen Organisationen (Guerilla und Drogenmafia in Peru und Kolumbien) sind dabei mittelfristig vielleicht relevanter als das gleichzeitige Ausufern auch der »normalen Kriminalität«. Immerhin führt die Unfähigkeit des Staates, sein Gewaltmonopol hier erfolgreich durchzusetzen, zu einer allgemeinen Selbstschutzmentalität und massenhafter individueller Aufrüstung. Die persönlichen Leibwachen der Prominenten oder derer, die es sein wollen, die privaten Wachdienste zum Schutz der Villenviertel, aber auch die mitunter in Lynchjustiz endenden Schutzmaßnahmen organisierter Elendsviertel- oder Dorfbewohner, die bewaffneten Selbstschutztrupps andiner Bauerngemeinschaften (rondas campesinas) oder private Polizeitruppen venezolanischer und kolumbianischer Hazendados gegen die Entführungsorganisationen kolumbianischer Guerilla- und Mafiagruppen im Grenzgebiet zeigen, wie physische Gewalt bei »zerbröselndem« staatlichen Monopol keinesweg verschwindet, sondern privatisiert und dadurch multipliziert wird. Daß die »den Staat« beherrschenden Eliten durch ihr persönliches Verhalten wesentlich dafür verantwortlich sind, daß das allgemeine Rechtsbewußtsein, Gesetzestreue oder simple Tugenden wie Anstand, Rücksichtnahme, Ehrenhaftigkeit, individuelle und kollektive ethische Prinzipien in der Krise sind, ist angesichts der von den Medien in der Demokratie immerhin aufgedeckten skrupellosen Bereicherungsskandale eher Beleg für die Fähigkeit der Gesellschaft, von schlechten Beispielen zu lernen. Kurzfristige Euphorien, wenn doch einmal ein Schuldiger zwar nicht bestraft, aber zumindest - wie der brasilianische Expräsident Collor oder Venezuelas Carlos Andrés Pérez - seines Amtes enthoben wird, erhalten spätestens dann ihren Dämpfer, wenn, wie im Länderbericht Brasilien dargestellt wird, kurz danach die wackeren Collor-Bekämpfer einer auch noch »ethischer Flügel« genannten Parteigruppe selbst als freche Räuber der Staatskasse identifiziert werden. Die extreme Korruption der politischen Klasse der lateinamerikanischen Länder ist natürlich allein mit dem Strafrecht nicht zu bekämpfen, aber eine kleine »Revolution der Staatsanwälte und Richter« wie sie (wenn auch mit vorläufig fatalen politischen Konsequenzen) Italien erlebte, könnte immerhin eine angedeutete Genugtuung für das täglich verletzte Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung bedeuten.

Die Hoffnung hierauf ist gering. Denn in fast allen Staaten treffen wir auf eine selbst korrupte, klassenblinde, politisch manipulierte oder unfähige, auf jeden Fall praktisch wirkungslose Justiz, die allenfalls Kleinkriminelle abstraft, in Hunderten von KZ-ähnlichen Haftanstalten ihrerseits Tote, Gewalt und Kriminalität produziert und schon seit Jahren vom Staat aufgegeben wurde. Die faktische Rechtsverweigerung bestand schon seit Jahrzehnten in Form von extremer Formalisierung und unendlicher Verfahrensdauer, wirklichkeitsfremden Gesetzen und antiquierten Rechtstheorien, menschenfeindlichem Strafvollzug und Korruption auf allen Ebenen. Die mit den Kürzungen der Staatsausgaben verbundene weitere finanzielle und personelle Vernachlässigung des Justizapparates führt zu seinem Kollaps und belegt die zynische und gefährliche Gleichgültigkeit des neoliberalen Staates gegenüber einer ihn konstitutiv definierenden Funktion.

Die Privatisierung von Gewalt und die Marginalisierung der Justiz, mithin tendenziell der Verlust der grundlegenden Staatsfunktionen der Rechtssetzung und der Rechtsdurchsetzung, sind vielleicht die dramatischste Konsequenz des Rückzugs des Staates für die gesellschaftliche Entwicklung, schleicht sich doch damit seine Auflösung auf die Tagesordnung.

Die »Rekonstruktion der res publica«, richtiger: der Prozeß ihrer Destruktion - steht deshalb auch in der Analyse von Thomas Fatheuer über Brasilien im Mittelpunkt. Zunächst skizziert er die Dimension der den Staat ersetzenden, zersetzenden und bekämpfenden kriminellen Parallelmacht in gr»ßen Städten Brasiliens: Das Verhältnis der Drogenbanden, Glücksspielkartelle und anderer Gruppen des organisierten Verbrechens zu Polizei, Justiz und Politik, zum Staat, erfaßt das gesamte Spektrum von Überlappung und Kooperation über friedliche Koexistenz bis zu Konkurrenz und Konflikt. Resultat ist eine »Kultur der Vernichtung« mit Brot und Spielen, zu der die aus kriminellen Pfründen finanzierten Sambaschulen ebenso zählen wie die organisierten Massenmorde an Straßenkindern. Mithin geht es nicht einfach um die Alternative von zu viel oder zu wenig Staat, sondern um den partiellen Verlust des durch seine konkreten Polizei- und Militäraktionen ohnehin diskreditierten oder selbst kriminellen Gewaltmonopols des Staates und das Verwachsen der Ränder der Staatsmacht mit der Unterwelt, das mit einem privatisierten politisch-sozialen Komplex einhergeht. Staatshandeln wird als solches privat: Die Fragilität des Staates, der Verlust seiner politisch-konzeptionellen, funktionalen, administrativ-institutionellen, personellen und bürokratischen Kapazität provoziert eine Personalisierung der öffentlichen Aufgaben. In einigen Bereichen ist der Staat physisch nicht mehr präsent. Eine prekäre infrastrukturelle Basisversorgung in den favelas wird zwar von ihm mitunter geleistet, sie erscheint jedoch als quasi private Leistung zum Beispiel eines lokalen Politikers - und ist es angesichts des fragmentierten Staates, der von Individuen und Gruppen nur noch als Melkkuh benutzt wird, auch tatsächlich. Teile der Basisversorgung sind heute bereits privat und werden zu Faktoren der lokalen Macht, die sich ihrerseits durch Eingriffe und Leistungen des Staates legitimieren und bereichern kann. »Jenseits des Staates« wird an einem neuen, fatalen Gesellschaftsvertrag gestrickt.

Beim Zerfall des staatlichen Gewaltmonopols zum Zweck der Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung überwiegen also deutlich die Gefahren für die Chancen einer solidarischen, demokratischen Zukunft der Gesellschaft. Gleichwohl besteht die Hoffnung, daß geringere Präsenz und Allmacht des Staates diese Chancen auch fördern können: demokratische Selbstbestimmung, regionale Autonomie, dezentrale Basismacht, allgemeiner gesagt, Gestaltungs- und Experimentierfelder für die nicht mehr in allen Bereichen kontrollierte und gegängelte »Zivilgesellschaft« und dabei vor allem größere Unabhängigkeit für die bislang besonders unterdrückten eigenständigen Organisationen der indianischen Völker bilden das positive Resultat »jenseits« des reduzierten Staates. Denn wenn auch nicht nur durch Repression, so zumindest doch durch die von ihm genährten Illusionen hat der omnipräsente und omnipotente Staat bisher diese Selbstbestimmung be- oder verhindert.

Diese Illusionen zerfallen angesichts seines ökonomischen Zusammenbruchs und der faktischen Aufkündigung der Fürsorge- und Ordnungsgarantieversprechen mehr und mehr. Dies gilt nicht nur für die Illusion des Sozialstaates, der im Süden des Kontinents immerhin eine beachtliche Entfaltung erfuhr, während er in den meisten anderen Ländern stets nur als Versprechen und Hoffnung existierte. Dies gilt auch für die Illusion von Demokratie, Partizipation und Gleichheitsversprechen, die dem lateinamerikanischen Nationalstaat lange Zeit eine Kohärenz erlaubte, die unter anderem zum Beispiel die Interessen der indianischen Völker zu ignorieren möglich machte.

Heute treffen jedoch zwei »Freiheiten« zusammen: die Freiheit im Staat, in den Demokratien des Kontinents, und die Freiheit vom Staat, der seine Präsenz einschränkt. Das bedeutet weniger Repression einerseits und die Chance einer stärkeren Artikulation der gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Bedürfnisse andererseits. Diese doppelte Freiheit definiert durch Demokratie erkämpfte und durch Neoliberalismus überlassene und aufgezwungene Freiräume und erzwingt und ermöglicht so eigene Entfaltung. Die Chancen, aber auch die Notwendigkeit für regionale und sektorale gesellschaftliche Selbstorganisation, mithin die Chance und die Notwendigkeit einer neuen demokratischen Erfahrung und Praxis sind evident.

Juliana Ströbele-Gregor zeichnet diesen widersprüchlichen und komplexen Prozeß am Beispiel des Verhältnisses der indianischen Kleinbauern aus dem Hoch- und Tiefland Boliviens zu ihrem »Stiefvater« Staat nach. Die aus unterschiedlichen Gründen entstandenen »Freiräume« verbinden sich mit konkreten historischen Ereignissen und einem spezifischen und anders wahrgenommenen Problemdruck und führen zu einer neuen Artikulation bäuerlicher und indianischer Organisationen und Bewegungen, zu neuen Formen der Vernetzung untereinander, zu neuen Forderungen nach Demokratie und Selbstbestimmung und zu einem im Gegensatz zum Konfrontationskurs der späten siebziger Jahre eher diffus distanzierten Verhältnis zum Staat.

Die Ambivalenz der Hoffnungen auf einen nicht oder wenig präsenten Staat wird auch deutlich an der Entwicklung der Autonomen Regionen an der Atlantikküste Nicaraguas, die Hans Petter Buvollen und Robert Große beschreiben. Historisch war hier die Präsenz von Staatlichkeit immer gering und prekär; die Selbstbestimmungsforderungen der Bevölkerung zielten daher auf (noch) weniger Zentralstaat, um mehr regionale »staatliche« Administration als Entwicklungsinstrument durchsetzen zu können. Der Kampf um Autonomie in dieser Region gegen die sandinistische Regierung, von der internationalen Öffentlichkeit damals intensiv verfolgt und heute eigentlich nicht mehr beachtet, konnte nicht in eine Konzeption und politisch-administrative Praxis münden, die ein auch nur fruchtbares Spannungsverhältnis zwischen Zentralstaat und autonomer Region - geschweige denn ein Gleichgewicht - hätte herstellen können. Der Widerspruch zwischen staatlichem Kontrollanspruch und der Forderung nach regionaler Selbstbestimmung wurde auch im immerhin erreichten Autonomiegesetz nicht überwunden. Zu viele Interessen spielten damals eine Rolle, und keine der beiden Seiten hatte hinreichend Erfahrung, Zeit und politische und soziale Kompetenz, um praktikable Lösungsschritte anzubieten, die zu einem Autonomieverständnis hätten führen können, das sich nicht in einer Mischung aus (unter anderem auch mangels Ressourcen) wenig relevanten regionalen Institutionen und zentralstaatlicher traditioneller Vernachlässigung erschöpft. Das überraschende Ergebnis der jüngsten Wahlen, bei denen jene Kräfte verloren, die am überzeugendsten die regionalen Interessen thematisierten, deutet darauf hin, daß »Autonomie« ohne erfahrbare positive Veränderungen des Alltags für die Menschen abstrakt bleibt und die Vitalität der bisher immer enttäuschten Hoffnungen auf Lösungen von außen nicht mindert. Dies gilt erst recht, wenn auch unter dem Deckmantel der Autonomie das von früher bekannte Chaos sich ausbreitet und der ferne Zentralstaat potentiell immer noch als wichtigster Adressat von Forderungen angesehen wird, weil die autonome Verwaltung kaum praktische und wirksame Präsenz entfaltet.

Die Ambivalenz politischer Hoffnungen auf positive Effekte geringer Staatspräsenz gilt auch für die F6”konomischen Träume, die sich mit dem wirtschaftlich abstinenten Staat verbinden. Die neoliberale Konzeption will bekanntlich möglichst weitgehend staatliche Aktivität durch die angeblich effizientere Privatwirtschaft ersetzen. Beim bereits erwähnten Problem der Effizienzdefinition geht es nicht nur um den Gegensatz von gesamtgesellschaftlichem Nutzen einerseits, betriebswirtschaftlicher Gewinn- und Verlustrechnung andererseits. Ein besonders umstrittenes Feld sind die Entstaatlichungs- oder Privatisierungsbemühungen auf Feldern, auf denen beide Aspekte zusammentreffen. Die Ineffizienz der gesetzlichen Sozial- und Krankenversicherungssysteme sind hierfür das Beispiel par excellence.

Lothar Witte stellt in seinem Artikel über die Reformen der lateinamerikanischen Sozialversicherungssysteme zunächst einmal klar, welche (oft politisch bedingten) technischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Entwicklungen zur tiefgreifenden Strukturkrise und teilweise absehbaren Insolvenz dieser Systeme geführt haben, und daß - völlig unabhängig von neoliberalen Intentionen - radikale Reformen unabdingbar sind. Die »Privatisierung« der Kranken- und der Sozialversicherung in einigen Ländern des Kontinents ist jedoch oft als besonders perfides Unterfangen des neoliberalen Staates denunziert worden, das die Alten und die Kranken aus der von den bisherigen Systemen garantierten sozialstaatlichen Absicherung werfe und sie schutzlos dem gierigen Gewinninteresse unkontrollierter privater Spekulanten überantworte. Witte hält dagegen, daß die gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherungen eher der falsche Adressat von Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Universalität sind, da sie sich immer nur auf den relativ geringen Teil der Bevölkerung beziehen, der überhaupt von den auf das bismarcksche Modell orientierten Versicherungssystemen erfaßt wird. Beitragsfinanzierte Systeme (gleichgültig, ob nach dem Umlage- oder dem Kapitaldeckungsverfahren) begrenzen Solidarität auf die Mitglieder der Solidargemeinschaft, und die umfaßt in Lateinamerika eben nicht die ganze Gesellschaft. Steuerfinanzierte Modelle der allgemeinen Alterssicherung aber stehen nirgends auf der Tagesordnung. Witte macht ferner klar, daß »die ordnungspolitische Frage nach der Bedeutung des Staates und der Rolle des Privatsektors für die Sozialversicherungsreform in der Praxis wahrscheinlich der am wenigsten relevante Aspekt ist.« Obwohl der Staat sich aus der direkten Verantwortung für die Leistungserstellung zurückzieht und diese stärker dem Privatsektor überträgt, übernimmt er weiterhin eine wichtige Rolle in der Reglementierung und Kontrolle, bei der Wahrung sozialer Elemente und der Finanzierungsgarantie, gewährleistet also weiterhin die Rahmenbedingungen. Auch bei der Frage nach der Effizienz und nach der sozialen Gerechtigkeit der Systeme widerlegt Wittes Analyse populäre Vorurteile. Weder ist ein staatliches System per Definition sozial gerechter, noch ist ein privates System notwendigerweise effizienter, wie das herzlich ineffiziente private Gesundheitssystem in Chile belegt.

Geradezu paradox ist der Nachweis, daß gerade der chilenische Staat, dessen Sozialversicherungsreform - unberechtigterweise, wie Witte belegt - Modellcharakter gewonnen hat, und der eine besonders radikale »Entstaatlichung« forcierte, weiterhin finanziell und regulierend mit am stärksten am »privaten« Sozialversicherungssystem beteiligt ist. »Jenseits des Staates« kann man also auch auf mehr Staat treffen. Spätestens diese Erkenntnis legitimiert das Fragezeichen hinter dem Thema dieses Bandes. Denn in der konkreten Analyse stellt sich natürlich heraus, daß es naiv wäre, »für« oder »gegen« den Staat oder seinen Rückzug Position zu beziehen, sondern daß die Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft das entscheidende Kriterium zur Beurteilung sind. Der manichäische Kampf für oder gegen den guten oder den schlechten Staat geht zum Teil zurück auf den problematischen historischen Gegensatz zwischen Anarchismus und Liberalismus.

Aus dem politischen Liberalismus, der im Namen der gesellschaftlichen Gestaltungsrechte gegenüber dem absolutistischen Staat Demokratie und Partizipation der Zivilgesellschaft einklagte, ist in der lateinamerikanischen Praxis der ordinäre neoliberale Wirtschaftsanarchismus geworden, der nur mühsam einen Zusammenhang zu konstruieren in der Lage ist zwischen dem ungehinderten darwinistischen Überlebenskampf auf dem Markt und seinem angeblich die allgemeine Wohlfahrt befördernden effizienzsteigernden Auslese- und Konkurrenzprozeß einerseits und den demokratischen Freiräumen, die der totalitär wirkende Fiskalstaat illegitimerweise besetzt halte, andererseits. Die eher in der anarchistischen Tradition stehenden Hoffnungen auf den Rückzug des Staates blicken dagegen zunächst auf die Chancen, die sich den gesellschaftlichen Gruppen bieten, endlich ihre Wirklichkeit nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Autonomie und Selbstorganisation, alternative Lebensformen, demokratische Selbstherrschaft, Basisdemokratie, Dezentralisierung sind die entscheidenden Werte, die ein reduzierter Staat zu realisieren erlauben könnte. Beide Positionen leiden unter einer fatalen Fixierung auf den Staat, der sich mithin selbst dann noch als übermächtig, weil freiheitsstiftend und -begründend, erweist, wenn er zertrümmert wird, sei es, um demokratische Freiräume zu gestalten, sei es, um bestehende Machtpositionen unbeschränkt nutzen zu können.

Den Staatsapparat selbst zu demokratisieren und zu dezentralisieren, seine Institutionen und Verfahren, seine Entscheidungsmechanismen und Instanzen, seine Aktivitäten und politischen und sozialen Prioritäten in gesellschaftlichen Besitz, in tatsächliche gesellschaftliche Herrschaft zu überführen, wird als Alternative dabei immer weniger gedacht. Nicht zuzulassen, daß der Staat Stück für Stück »weggetragen« wird, sondern den existierenden Staat so umzugestalten, daß er selbst - und nicht nur gesellschaftliche Bereiche jenseits seiner Sphäre - demokratisch wird, könnte helfen, die bestehenden Widersprüche und Ambivalenzen politisch fruchtbar zu machen.

Besondere Hoffnungen richten sich dabei auf neue Organisationsformen der zivilen Gesellschaft jenseits von Staat und staatsorientierten Institutionen wie Parteien: Die »Nichtregierungsorganisationen« (NGOs) haben nicht zufällig in dem Maße an Zahl, Bedeutung und Selbstbewußtsein zugenommen, in dem der Staat als Garant vor allem sozialer Rechte und die Parteien als Monopole politischer Willensbildung an Relevanz verloren haben. Albrecht Koschützke erklärt die Popularität der NGOs als Hoffnungsträger unterschiedlichster politischer und sozialer Gruppen aus ihrer Entstehungsgeschichte als Hilfsorganisationen des antidiktatorialen und sozialen Kampfes, ihrer Transformation zu Entwicklungsagenturen im Gleichschritt mit Änderungen in der internationalen Kooperationsphilosophie und ihrer allseitigen Nützlichkeit für neoliberale und basisdemokratische Diskurse. Sie gelten - oft irrtümlich - als effizient und kostengünstig, uneigennützig, nicht profitorientiert und unparteiisch, demokratisch und basisnah, kompetent und flexibel, überschaubar, unbürokratisch, an den konkreten Bedürfnissen und der Praxis (man könnte auch sagen, am Markt) orientiert und privat organisiert, lebendiger demokratisch pluralistischer Ausdruck der zivilen Gesellschaft, ideale Agenten der sozioökonomischen Entwicklung. Damit sind sie genau das, was der Staat gemäß neoliberaler Kritik nicht ist. Diese behaupteten Eigenschaften machen sie aber auch für linke und rechte Verteidiger des Subsidiaritätsprinzips attraktiv: Für die einen sind sie Ausdruck eines neuen Modells partizipativer Politikkultur, basisdemokratischer Gegenpol zur Klassenherrschaft verschleiernden repräsentativen Demokratie, für die anderen nützliches und billiges Befriedungsinstrument bei der »neuen Sozialpolitik« des neoliberalen Staates, die nicht mehr Anspruch und gesellschaftliche Verpflichtung ist, sondern eher Caritas, Gnadenakt, »Kompensation« und Überlebenshilfe für den Einzelfall. NGOs ersetzen oft bereits, vor allem im sozialen Bereich, den Staat, kompensieren und rechtfertigen oder erleichtern damit seine Flucht aus der Verantwortung für die Gesamtgesellschaft.

Der neoliberale Ministaat hat wenig zu tun mit den Hoffnungen auf das »Absterben« des Staates, selbst wenn vielleicht nicht nur der Sozialstaat im neoliberalen Reststaat abstirbt. In Kuba vollzieht sich ein ähnlicher Prozeß des Absterbens des Sozialismus im Sozialismus. Wie sich der politische und ökonomische Sozialismus in Kuba verflüchtigt, beschreibt der Länderbericht. Ingrid Kummels zeichnet dagegen jene Nischen nach, die genutzt werden, um Alltag anders als »sozialistisch« zu organisieren. Dazu bedarf es einer sozialen Kultur, die ihre Kraft gewinnt aus kreativer praktischer Vernunft, gläubiger Phantasie und ideologischen Positionen, einem Amalgam, das die Gleichzeitigkeit völlig ungleichzeitiger politischer, wirtschaftlicher und geplanter und weltanschaulicher Werte und Praktiken ausdrückt. Das Leben »der kleinen Leute« zwischen und mit Sozialismus, Kapitalismus und Santería zeigt die praktische Dimension des Raums jenseits und innerhalb des Staates. Seine Paradoxie entspringt der gelebten Ambivalenz und dem Wissen um eine verheißungsvollere Alternative als »Sozialismus oder Tod«. Sie setzen auf das Leben. Und wer wollte da widersprechen?

Das Jahrbuch erscheint mit dieser Ausgabe zum achtzehnten Mal. Die Herausgeberinnen und Herausgeber wissen, daß diese Kontinuität der gemeinsame Erfolg eines solidarischen Arbeitszusammenhanges ist: Den Autoren und Übersetzern der Länderberichte und der Artikel, die einmal mehr unentgeltlich an diesem Band mitgearbeitet haben, dem Horlemann-Verlag, dessen liebevolle und professionelle Betreuung am besten dadurch anerkannt wird, daß alle, die das Buch lesen, eine weitere Person zum Kauf überzeugen, und allen, die unser Team mit Anregungen und Kritik begleitet haben, sagen wir dafür herzlichen Dank.

Albrecht Koschützke


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