Sport und Spiele

Lateinamerika. Analysen und Berichte Band 19

Horlemann Verlag Bad Honnef 1995ISBN · 3-89502-033-8

(herausgegeben von D. Dirmoser, W. Gabbert, B. Hoffmann, A. Koschützke, K. Meschkat, C. Müller-Plantenberg, U. Müller-Plantenberg, E. von Oertzen und J. Ströbele-Gregor)

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Inhaltsverzeichnis

Editorial 7

Sport in Lateinamerika

I Analysen 19

Thomas Fatheuer: 21

Das Vaterland der Fußballschuhe
Eine kleine Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs

Lioba Rossbach de Olmos: 38

DFB out of area

Aldo Panfichi, Raúl Castro Pérez und Martín Benavides: 42

Fußball und Identität. Ritual und Gewalt in peruanischen Fußballstadien

Bert Hoffmann: 66

Fidel Castro Baseballstar

Ingrid Kummels: 67

Zwischen Sonne, Mond und Wettgeschäft:
Die Langstreckenläufe der Rarámuri

Bert Hoffmann: 87

Der Mann, der Fidel einen Kinnhaken verpaßte

Ciro Krauthausen: 90

Gemeinschaftsträume. Von sportlichen Höhenflügen (und Abstürzen) in Kolumbien

Carlos Monsiváis 108

»Hier hast du verloren, Moderne!«

David Rudder 112

Here comes ... »The West Indies«

Christine Cummings: 113

Der Zusammenbruch der weißen Mythen
Cricket in der englischsprachigen Karibik

Eleonore von Oertzen: 116

Cricket - das Spiel und seine Regeln

Ute Schüren: 128
Beim Sport ein Opfer bringen:
Aspekte des Ballspiels in Mesoamerika

Albrecht Koschützke 147

Luis war mit dem Radl da

II Berichte 151

Achim Wachendorfer und Hans Mathieu: 153

Brasilien: Ein Wirtschaftsplan entscheidet die Wahlen

Alrich Nicolas: 164

Demokraten, Caudillisten & Co
Wahlfälschung und Transformation des Parteiensystems in der Dominikanischen Republik

Suzy Castor: 173

Haiti: Herausforderungen des demokratischen Wiederbeginns

Luis Alberto Restrepo M.: 185

Kolumbien: Von der Schocktherapie zum Sprung nach vorn
Bilanz und Perspektiven

Bert Hoffmann: 197

Kuba: Prekäre Ruhe nach dem Sturm

Wolfgang Gabbert: 206

Vorwärts in die Vergangenheit
Finanzkrise und Refeudalisierung der Politik in Mexiko

Ralf Leonhard: 225

Nicaragua: Sandinistische Selbstzerfleischung

Line Bareiro: 235

Paraguay: Demokratische Vielfalt versus autoritäre Vergangenheit

Carlos Iván Degregori: 244

Peru: Alberto Fujimori und das Ende der »República Criolla«

Rodrigo Arocena: 256

Uruguay: Wie ein sich seit langem ankündigender Wandel

ein Land dennoch überrascht.

Autorinnen und Autoren dieses Bandes 267


Editorial: Sport in Lateinamerika

I

Goooooooooooooooooooooooooooooooooooooool stand am Anfang der Debatte über das Thema dieses 19. Lateinamerika-Jahrbuchs, oder richtiger, die sehnsuchtsvolle Erinnerung an den anonymen lateinamerikanischen Sportreporter und seinen Torschrei, angesichts der temperament- und farblosen Übertragung eines temperament- und farblosen Fußballspiels der deutschen Mannschaft während der letzten Fußballweltmeisterschaft in den USA. Doch sogleich tauchte das pflichtbewußte Unbehagen über die mögliche Frivolität dieses Themas auf, ein Unbehagen, das auch nicht mit dem Argument leicht überwunden werden konnte, daß Sportsoziologie eine wenn auch junge, so doch durchaus seriöse Wissenschaftsdisziplin ist. Denn hat Lateinamerika gerade in dieser Dekade nicht wichtigere Probleme als »Sport und Spiele«? Zumindest, wurde argumentiert, gehöre auch »Brot« in den Titel, um den politischen und sozialen Bezug herzustellen.

Aber es geht nicht nur um das Brot. Es geht eben auch um Spiele: In Lateinamerika ist Sport das zentrale Massenphänomen, in dem sich die Gesellschaften spiegeln, ihre größten Träume und ihre bittersten Konflikte.

Wo Lateinamerika seine Fußballstars und die Karibik ihre Leichtathleten mit mehr Erfolg als die heimischen Industriewaren verkaufen, ist Sport längst ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges: Der brasilianische Fußballstar Romário Farías wurde vom Philipskonzern in der Verkleidung des holländischen Clubs PSV Eindhoven 1988 für rund vier Millionen Dollar im Rahmen der debt for equity swaps »gekauft«, Philips erwarb auf dem Schuldentitelmarkt zu 75 Prozent des Nominalwertes einen Kredit der brasilianischen Zentralbank, und die zahlte in Cruzados zum Tageskurs den vollen Kreditbetrag an Romários Club Vasco da Gama. Romários Verkauf tilgte damals 0,3 Promille der brasilianischen Auslandsschuld, seine Tore für den Philips Sport Verein zählten gleichwohl zu 100 Prozent.

Wo ein Land wie Peru mit ansonsten miserabler internationaler performance wenigstens einmal, nämlich im Volleyball der Frauen, Weltspitze ist, und wo Fußball, Cricket, Tennis und Baseball mit fremden Herrschern ins Land kamen wie United Fruit und Coca Cola, sind Siege im Sport zu hochwirksamen Symbolen nationaler Emanzipation und internationaler Anerkennung geworden. Wo Sport für die einen Vehikel sozialer Ab- und Ausgrenzung ist, ist für die anderen das Spiel in den Stadien die Fortsetzung des Klassenkampfes mit anderen Mitteln. Und Sport ist nicht nur Opium des Volkes, es ist auch seine Utopie: Die Goldmedaille des seit Jahren in den USA lebenden Schwimmers aus Surinam ist nicht einfach nur die einzige olympische Medaille, die »das Land«(!?) je gewann, der Name Surinam ging für Sekunden um die Welt, Sekunden, in denen sich Inder, Malaien, Chinesen, Indios, Schwarze und Creoles in Paramaribo erstmals seit der Unabhängigkeit als »Surinamesen« begriffen: Die nationale Integration fand Platz auf einer kleinen vergoldeten runden Scheibe.

Der soziale Aufstieg des kolumbianischen Superfedergewichtsweltmeisters aus dem Hafenviertel von Barranquilla erlaubt in der Identifikation mit dem Sieger die tägliche Hoffnungslosigkeit gegen (freilich nur superfedergewichtige) Phantasien einzutauschen, über die herrschenden Klassen- und Rassenschranken hinweg triumphieren zu können. Der Sieg der Underdogs gegen die, die so mächtig scheinen, entfaltet so recht die kollektive Symbolik, die der Sport ermöglicht.

Wird Sport solchermaßen zur Chiffre komplexer ökonomischer und sozialer Verwertungsmöglichkeiten, ist eigentlich eher unverständlich, warum die mit Lateinamerika befaßten Wissenschaften dem Thema bisher praktisch keine Bedeutung beigemessen haben. Außerdem gilt nun gerade für Lateinamerika, was Vinnay, der Altmeister der Sportsoziologie, bereits erkannte: »Einzig der Sport bewegt die Massen noch massenhaft«. Die Frage, was die Massen dabei wirklich bewegt, ist das Leitmotiv dieses Bandes.

II

Die Analyse der sozialen und kulturellen, der politischen oder der ökonomischen Dimension des Sports trifft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit (natürlich nicht nur Lateinamerikas) auf die dreigeteilte Welt von Profis, Amateuren und Zuschauern, von Spitzen-, Breiten- und Zuschauersport und ihre Motivationen: Gesundheit, Geld, Prestige, Unterhaltung, sozialer Kontakt, Selbstbestätigung, Leistungswille, Identifikationssuche, ästhetisches Erlebnis usw.

Sport in Lateinamerika, die dort ausgeübten Sportarten, ihre Organisation, Wahrnehmung, Bedeutung, aber auch ihre Qualität und ihre Verbreitung folgen, allgemein gesprochen, den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen dieses Kontinents. Auch der Sport ist mithin natürlich nicht zu trennen von der spezifischen Einbindung Lateinamerikas in Weltgeschichte und Weltmarkt, zumal der moderne Sport historisch an die Industrialisierung und den Aufstieg des Bürgertums gebunden ist.

Er ersetzte die kollektiven, eher zweckfreien »Spiele« der vorkapitalistischen Zeit durch das zweckrationale konkurrenzbewußte Denken und Handeln des Bürgertums auch in seiner »freien Zeit«, das uns heute erlaubt, Zentimeter und Sekunden nicht als sportfremde und eigentlich sinnlose Maßeinheiten wahrzunehmen. Konsequent ist daher, daß die fortgeschrittenste Industrienation des 19. Jahrhunderts zum »Mutterland« des Sports wurde: Die Briten durchbrachen im Sport nicht nur Normen und Wertvorstellungen des Adels, sie säkularisierten sie auch in den Sportprinzipien des fair play und des ausgetüftelten Regelwerkes jedweder sportlichen, körperlichen Betätigung. Iring Fetscher erinnerte uns daran, daß, »wer Sport betrieb, schon im alten Griechenland bewies, daß er nicht gezwungen war, körperliche Anstrengung auf sich zu nehmen«, und die britische Bourgeoisie erfand mit dem Amateurgedanken für lange Zeit die unauffällige, aber wirksame Schranke, um die proletarischen Massen weitgehend von Sportwettkämpfen auszuschließen. In Deutschland war übrigens die 1848er Revolution der Katalysator, um den antifeudalen Impetus der Sportanfänge in die konservativ-bürgerliche Purzelbaumideologie der Turnbewegung umzumünzen. Die Arbeitersport-Tradition antwortete darauf und reklamierte den Breitensport (und nicht einfach das Freizeitspiel) als demokratisches Massenrecht. Nach Lateinamerika kommt daher der moderne Sport erst mit der massiven Einwanderung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, und das prägt ihn in weiten Teilen bis heute.

Die kapitalistische Arbeitswelt beförderte den Breitensport ebenfalls, wenn auch mit anderer Akzentuierung als die proletarisch-demokratische Sportbewegung: Sport als Gegensatz bzw. Komplement zur Arbeit, als Mittel zur Wiederherstellung körperlicher Fitneß, als Instrument, die durch mangelnde körperliche Bewegung und einseitige Belastung, durch Entfremdung und Monotonie reduzierte Leistungsfähigkeit wiederzuerlangen. Gleichzeitig orientierte sich der Breitensport aber auch an Elementen des Arbeitsprozesses: Leistungsoptimierung und technische Rationalität, Organisation, Planung und Bürokratisierung, Objektivierung und Kommerzialisierung. Die jüngste Entwicklung des immer weniger vereinsgebundenen Freizeitsportes hat die Spannung zwischen Komplementarität und Affinität des Sports zur Arbeitswelt in besonderer Weise eher noch zugespitzt: Die Individuen verweigern sich massenhaft in postmoderner Vereinzelung der kollektiven Organisation des Vereins und auch zunehmend der Mannschaftssportarten und privilegieren die individuelle Fitneß, Gesundheitsvorsorge, Höchstleistung, Extremerfahrung oder Ästhetik, die den sozialen Zusammenhang nicht mehr als Kommunikation oder Wettkampf, sondern direkt als »Konkurrenz« erfährt. Die sportlich genutzte Freizeit wird in dem Maße der Verlängerung der Arbeitszeit ähnlicher, wie die dort geltenden Kriterien der Exzellenz und Fitneß sich auch hier niederschlagen. Das für Lateinamerika charakteristische interdependente Nebeneinander unterschiedlicher historischer Niveaus in Arbeitsorganisation und Produktivität drückt sich dabei im Sport besonders skurril aus: Der auf dem hometrainer per Mobiltelefon die Aktienkurse verfolgende Yuppie in São Paulo erlebt ähnliche Euphorien und Ängste um den vierten Fußball-Welttitel für Brasilien wie der Straßenbengel in Recife. Aber er spürt als gewiefter Börsianer zudem, daß die »Tetra« wohl sogar diese Kurse mitbeeinflußt, stimuliert oder deprimiert sie doch zumindest konjunkturell das Lebensgefühl einer Nation, die Arbeitsdisziplin oder die Bereitschaft, für Stunden, Tage oder Wochen die eigene Wirklichkeit auf ein 7,32 m mal 2,44 m großes Rechteck zu reduzieren, das eigene oder gegnerische Fußballtor.

Die Illusion der Nichtarbeit im Breitensport wird unter anderem erleichtert durch die heute für den einzelnen spätestens mit der Pubertät entschiedene Trennung zwischen Breitensport und Hochleistungssport, der nurmehr als Beruf betrieben werden kann und selbst von Avery Brundages Söhnen als Arbeit (im Showbusineß) begriffen und bezahlt wird. Wer sich heute nicht spätestens mit sechs Jahren den Tennisschläger an die Hand binden läßt, wird, wie wir wissen, eher im Lotto gewinnen als die Nummer Eins im Damentennis werden.

Die überragende ökonomische Bedeutung, die den Sport- und Freizeitsektor für Amateure, Profis und reine Zuschauer durch die Ausrüster, die Werbewirtschaft, die Unterhaltungsindustrie und die Medien zur Sportindustrie entwickelt hat, ruft die nostalgischen Kulturkritiker auf den Plan. Das gängige Beispiel für die Bundesrepublik - und auch jedes lateinamerikanische Land hat hier seine Bilder - sind dann »unsere Buben von Bern« und »der Geist von Spiez«, als 1954 ein Fußballweltmeister unter der Hand 500 Mark und einen Toto-Kiosk oder eine Tankwartlizenz als Prämie erhielt, während sich heute ein zweitklassiger Fußballprofi erst ab einem mindestens fünfstelligen Monatsgehalt die Schnürsenkel seiner Fußballschuhe zubinden läßt. Die romantische Verklärung des sauberen Amateurs gegenüber dem dreckigen Geschäft des Show-Sports betrauert den Verlust der sozio-ökonomischen und kulturellen Nähe zum Sieger, und damit den Verlust der Identifikationsmöglichkeit, obwohl und weil ein Volksheld einer »von uns« ist, der, weil er es geschafft hat, eigentlich keiner mehr von uns ist und deshalb überhaupt erst zum Idol werden kann. Die Doppelbödigkeit der Sportidol-Anbetung hat jedoch weitere Fallen: Ayrton Senna besaß nicht gerade einen proletarischen Familienhintergrund, und seine Millionen scheffelte er in einem weit vom Leben der Massen entfernten exklusiven Profisport, will man nicht jeden Führerscheinbesitzer als Formel-1-Amateur betrachten. Er wurde dennoch von den Massen, und nicht nur von seiner Klasse, hysterisch beweint. Keine Träne wert ist dagegen seit seiner peinlich-großmäuligen Hochzeit Diego Maradona, der mit seinem prätentiösen Lebensstil seine bescheidene soziale Herkunft beleidigte.

III

In Lateinamerika hat es der Breitensport nie zu der ausgeklügelten Organisations- und Vereinskultur gebracht wie in Europa; der geringeren Breite kapitalistischer Arbeitsorganisation entsprach eine geringere Breite der Sportorganisation. Er war hier viel weniger der »Bruder der Arbeit« (Ortega y Gasset), was nicht heißt, daß er damit dem schillerschen »kind'schen Spiel« näher gestanden hätte.

Aktiver Sport, als »zielgerichtetes Handeln, dessen Ergebnisse objektiv meßbar sind« (Prokop), war zunächst den aristokratischen Clubs der Elite, dann dem universitären Umfeld zugeordnet: Golf, Polo, Tennis, Hockey, die »weißen« Sportarten der »weißen« herrschenden Klassen gingen auf die Immigration der europäischen Eliten zurück, die »ihren« Sport und ihre kulturellen Muster aus den »Mutterländern« mitbrachten und auch in der neuen Heimat so exklusiv praktizierten wie ihr übriges Leben. Die Club-Mentalität der upper class definierte Netzwerke der sozialen Beziehungen und prägte soziale und geographische Räume: Der Pferdesport, Polo oder Pferderennen, verband die auf ihren riesigen Landbesitzen isolierten Großgrundbesitzer zu frohen Festen, bei denen die Damen, Kinder, Enkel und Tiere mitunter ins Flugzeug verfrachtet wurden, um beim nächsten Nachbarn und Züchterkonkurrenten die trippelfüßigen Caballos de Paso und Criollos wettstreiten zu lassen.

Der Golfclub setzte gesellschaftliche und städtebauliche Akzente. Auf den 18-Löcher-Wiesen, zunächst weit draußen vor den Toren der Städte, trafen sich die Herren, im Clubhaus die Damen »der Gesellschaft« (»de sociedad«) zu sportlich-sozialem Tun. Als die nicht zu »der Gesellschaft« gehörenden Massen den städtischen Raum in Besitz nahmen, zog die Elite aus der Stadt aus und baute ihre Villen gleich direkt in Golfplatznähe. So wie der Sport als sozialer und distinktiver Kristallisationspunkt der upper class diente, wurden die Sportanlagen zum Ausgangspunkt neuer Villensiedlungen der Reichen. »El Golf«, »El Bosque« oder »Country Club« und »Ciudad Jardin« sind mittlerweile in Lima, La Paz, Caracas, Santiago oder Buenos Aires durch die Ausuferung der Hauptstadt längst wieder eingemeindet und heute zentrumsnahe, aber weiterhin exklusive Shopping- und Wohnviertel. Stadtpläne dokumentieren die soziale Geographie von Stadtentwicklung und Sportstätten und den Klassencharakter auch des Sports.

Seit Tennis nicht mehr allein auf den privaten Plätzen der Villengrundstücke, Landhaus-Parks und Hazienden, sondern auch in »Clubs« gespielt wird, dient die Eintrittsgebühr als sozialer Selektionsmechanismus. Eintrittskarte ist ein Anteilschein am Club (neben den laufenden Mitgliedsbeiträgen, Platzgebühren etc.), eine Art Aktie, die auch quasibörslich gehandelt werden kann. Für die exquisitesten Clubs in Mexiko, Caracas, Santiago oder Buenos Aires sind 50 000 Dollar und mehr nicht ungewöhnlich. Der Aktienpreis bestimmt sich nur teilweise nach dem materiellen Wert der Installationen und Serviceleistungen des Clubs. Das preisentscheidende »Prestige« entlarvt sich als der im Aktienkurs ausgedrückte Geldwert der sozialen Vorurteile: Die Clubmitgliedschaft beeinflußt das Ansehen des Mitglieds und umgekehrt nährt dieses das des Clubs. Der Tennissport wird dabei dann oft nur zum Vorwand für das komplizierte, von Tradition und Willkür bestimmte Spiel aller Eliten, das der Selbstdefinition.

Das Polospiel ist ein historischer Reflex aus der Zeit, als Argentinien sich noch als Mitglied der Ersten Welt verstand. Polospielen kann jeder, der mindestens ein Dutzend der aus Rennpferden und Criollos gezüchteten konditionsstarken und wendigen Tiere besitzt, eine gute Stute kostet dabei freilich gut und gern zwischen 20.000 und 100.000 Dollar. Züchter, Trainer, Polospieler, Sponsoren und eine weltweite aristokratische Fangemeinde können deshalb darauf vertrauen, daß ihre mit Namensschildern gekennzeichneten Sessel in den Poloclubs von Buenos Aires nicht von Parvenüs okkupiert werden. Die Regeln sind einfach: Zwei Mannschaften mit je vier Reitern versuchen acht Runden (chukkas) á 7,5 Minuten lang, mit 1,10 m bis 1,30 m langen, hammerförmigen Bambusstöcken einen apfelgroßen Holzball in das 7,5 m breite gegnerische Tor zu befördern. Polo ist also eigentlich simpel. Daß es dennoch, zur Beruhigung der Produzenten exquisiter Markenartikel, die Poloschläger als Luxusemblem für ihre Rasierwasser und Shirts nutzen, kein Massensport werden wird, liegt daran, daß eine gute Mannschaft etwa 50 Pferde benötigt, um die acht Pferdewechsel pro Spiel eine Saison lang durchzustehen.

Die Briten erbten das Spiel aus ihrer indischen Kolonie; ihre Könige und Prinzgemahle sind ihm bekanntlich verfallen. Diese Leidenschaft und die Tatsache, daß Argentinien - 1936 der erste und bislang einzige Olympiasieger - den Weltpolosport beherrscht, hätte für die jüngere Geschichte des Kontinents eine reizvolle Wendung eines dramatischen Konflikts ergeben können. Denn was wäre geschehen, wenn Argentinien 1966 auf den durch die Presse belegten, damit freilich leider auch nicht seriöser werdenden Vorschlag des britischen Prinzgemahls und Herzogs von Edinburgh eingegangen wäre und die Heguys den Engländern im Tausch gegen die Malvinas/Falkland-Inseln überlassen hätte. Die Heguys, zwei Stammväter, acht Söhne und etliche Vettern, Onkels und Neffen, machen nämlich seit Jahrzehnten die Polo-Weltmeisterschaft praktisch zu einem Familienwettstreit. Beim Endspiel der inoffiziellen Polo-WM Ende 1993 hießen sechs der acht auf die beiden Mannschaften verteilten Polospieler Heguy, Sieger wurden die vier Heguys aus dem Poloclub Indios(!) Chapaleufú. Zu den zwölf weltbesten Spielern mit dem Handicap »10« (die internationale Skala reicht von minus 2 für Anfänger bis zur 10) zählen sechs Heguys, vier weitere Argentinier und zwei Mexikaner, aber kein Brite. Wie bekannt, kam es jedoch nicht zum Tausch der Malvinas gegen die Heguys. Der Malvinenkrieg fand daher mit der erfreulichen Konsequenz des Zusammenbruchs der argentinischen Diktatur statt. Die Briten müssen weiterhin auf einen Weltmeister in einer urbritischen Sportart verzichten, nachdem es im Fußball und Rugby, im Hockey und, shocking, selbst im Cricket nicht mehr so recht klappt. Argentinische Polosöldner aber reisen um die Welt, um im Jahresablauf zunächst in Florida, dann in England, Frankreich und der Schweiz und schließlich in Australien und Südostasien die dortigen Polomannschaften zu verstärken, bezahlt von den Prinzen und Scheichs, die trotz Handikap 1 oder 2 auch mal gewinnen wollen. 250.000 Dollar für ein Kurzsaison-Engagement, Markennamen auf den Polohemden und Sponsorengelder signalisieren die Kommerzialisierung einer der letzten aristokratischen Bastionen. Die katholische Messe, die bei der letzten Polo-Weltmeisterschaft auf dem Palermo-Feld in Buenos Aires zelebriert wurde, galt jedoch nicht dem langsamen Tod des wahrhaft Noblen im Polosport, sondern dem schnellen Tod oder den schweren Verletzungen der wahrhaft noblen Spieler, die im Laufe der Saison vom Holzball abgeschossen oder vom Gegner »abgeritten« und vom Pferd gestürzt wurden.

Soweit die Elitesportarten Massenbegeisterung zu entfachen vermögen, wie etwa beim Galopprennsport, handelt es sich eher um einen abgeleiteten, nicht unbedingt sportlichen Enthusiasmus: Der Totalisator und die Pferdewette, weniger der Wettkampf, das Pferd oder der Reiter, sind das entscheidende Motiv für die Zehntausenden, die an den Renntagen in fast allen lateinamerikanischen Staaten riesige Schlangen vor den Wettbüros und Straßenwett-Tischen bilden, eine »revista hípica« studieren und gebannt am Fernseher oder am Radio hängen. Daß dennoch auch Pferde und nicht die Wette allein eine Rolle spielen - wie das pleite gegangene einzige Windhundstadion Lateinamerikas in Venezuela belegt -, ist eine vielleicht sentimentale Referenz an die Viehzucht- und Gaucho- oder Llanero-Traditionen der nationalen Vergangenheiten.

IV

Die lateinamerikanische Sportwelt ist stärker polarisiert und bei den Sportarten weniger vielfältig als die der alten Welt.

Aus klimatischen Gründen fehlen (mit Ausnahme Chiles und Argentiniens und der vier Bob-Individualisten Jamaikas) natürlich alle Wintersportarten. Das verhindert aber nicht die Fernsehübertragung der Winterolympiaden, denn Dabeisein ist alles. Dann kommentieren zum Beispiel in Venezuela die Reporter im zur Almhütte umgebauten Studio in Caracas im Pullover, mit Wollschal und Pudelmütze bei 32 Grad Außentemperatur die aus dem Winter-Olympiaort eingespielten Bildkonserven »live« und versuchen durch Schaubilder und Grafiken, die staunende Karibiknation in die Feinheiten des Biathlon einzuweihen. Die rätselt derweil, ob sich Schnee wohl wie Rasierschaum oder wie geraspeltes Eis anfühlen mag.

Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, spielen auch die traditionellen »Mittelschichts-Sportarten« mangels ausgeprägter Mittelschichten (auch unter den Immigranten) kaum eine Rolle: Rudern, Leichtathletik, Schwimmen, Gymnastik, Tischtennis, Geräteturnen sind weder im Breiten- noch im Spitzensport bedeutsam. Die karibischen Leichtathleten, die mexikanischen Geher oder die zwei oder drei international konkurrenzfähigen südamerikanischen Mittelstreckler bestätigen als Ausnahme diese Regel. Daher konzentriert sich die Massenbegeisterung, sei es als Zuschauer oder Aktiver, auf die klassischen proletarischen Sportarten der proletarischen Einwanderer der Jahrhundertwende, die in zum Teil bis heute landsmannschaftlich organisierten Clubs praktiziert werden: Fußball, Boxen (aber nicht Ringen oder Gewichtheben) oder Radfahren, in der Karibik und von Mexiko bis Venezuela kommt beisbol dazu und in den einst britischen Inselkolonien das außerhalb englischer Zivilisation exotisch anmutende Cricket.

Ist diese globale Skizze noch relativ einfach zu zeichnen, bedarf es bereits anekdotischer Einzelfallkenntnisse, um nachzuvollziehen, warum gerade Chile Schützen und vor allem Tontaubenschützen von Weltklasse hervorgebracht hat oder Venezuela stolz auf Motorradweltmeister ist. Die Chilenen, die ja immer gern die Briten Lateinamerikas sein wollten, kultivierten neben teatime und Tennis eben auch die Entenjagd, und in Verbindung mit dem Vogelschießen eingewanderter deutscher Schützenbrüder ergab sich die Leidenschaft und Exzellenz für ein kulturhistorisches Kuriosum, das Tierschutz und industrielle Reproduzierbarkeit mit dem Jagd- und Kriegerinstinkt verbindet: schalenförmige Ton- oder Asphaltscheiben, von einer Wurfmaschine 70 bis 80 m weit geschleudert, werden mit Schrotflinten erlegt und bringen auch einmal die chilenische Flagge an den olympischen Ehrenmast. Venezuela hat nicht nur Llano-Reiter und Easy Riders, sondern eine ausgeprägte Motorrad-Büroboten-Kultur. Zigtausende kurven jeden Tag durch die Großstädte, ziehen vorbei an den ewigen Autoschlangen, kompensieren das Schneckentempo der Post, halten den Geschäftsbetrieb aufrecht und trainieren Ampelblitzstarts und akrobatische Fähigkeiten, jeder ein potentieller Checcotto.

V

Spezifische nationale Besonderheiten und Sonderbarkeiten setzen sich auch deshalb so auffallend durch, weil der Sport, mit Ausnahme der ungenierten Vereinnahmung für politische Zwecke, vom Staat weitestgehend ignoriert wird. Eine systematische oder gar umfassende Sportförderung findet - mit Ausnahme von Kuba - praktisch in keinem lateinamerikanischen Land statt.

Trainingsstützpunkte für Spitzensportler(innen), materielle oder fachliche Hilfe, sportmedizinische Dauerbetreuung usw. sind weitgehend unbekannt. Die wenigen Vereine als organisatorische und physische Basis sportlicher Betätigung konzentrieren ihre Ressourcen in den großen Städten meist auf die Profi-Spitzenmannschaften, soweit die nicht ohnehin bereits einer Bierbrauerei, einer Universität, einem privaten Mäzen oder der Mafia gehören. Der Vereinssport fällt also, da privatisiert oder informalisiert und nicht flächendeckend, als Trägerstruktur für staatliche Initiativen zugunsten des Breitensports aus. Die ohnehin nur gelegentlich gewährten staatlichen Zuschüsse an Fachverbände verpuffen. Sie werden »heiß abgerechnet« wie beim Organisationskomitee der Panamerikanischen Spiele, dem mehrfach die Buchhaltung, nie aber der Chefsessel abbrannte, oder versickern für Reisespesen häßlicher alter Männer, die als Funktionäre ihre Sportart bei internationalen Ereignissen vertreten und ganz gut auf Athletinnen und Athleten verzichten können.

Der Schulsport ist so miserabel oder akzeptabel wie das Schulsystem überhaupt, gezielte sportpädagogische Förderung über einen allgemeinen eher militärischen Grundtenor hinaus ist weitgehend unbekannt. Die »educación físicaAB® im lateinamerikanischen Schulalltag steht sicherlich der paramilitärischen Tradition der »Leibeserziehung« im Geiste von Turnvater Jahn näher als der »Körperkultur« des verblichenen Realsozialismus.

Die Erwachsenen sind in ihren aktiven sportlichen Ambitionen im allgemeinen auf die private Organisierung von Stadtteilclubs und »Thekenmannschaften« angewiesen und stoßen, sobald eine minimale Infrastruktur (Sportstätten, Geräte) gefordert ist, auf die generelle Misere öffentlicher Infrastrukturdefizite. Der private »Sportplatz« der Hochhaus- und Massensiedlungen in vielen Großstädten, meist kaum mehr als eine 100 bis 200 qm große Betonplatte in einem Drahtkäfig, symbolisiert das soziale und ökonomische Dilemma von extremen Bodenpreisen und Raumbedarf für körperliche Bewegung.

Aktive sportliche Betätigung der Massen kann in Lateinamerika also im allgemeinen nicht auf ein Dienstleistungsangebot von öffentlicher oder privater Vereinsseite zurückgreifen. Für die Mittelschichten sind Fitneßcenter, für ihre Kinder die Karate- und Judokurse oder die Freizeitclubs kostenpflichtige Möglichkeiten. Für Jugendliche bieten oft die Kirchen weniger aus sportpolitischen, denn aus pädagogisch-präventiven Gründen prekäre Gelegenheit zu sportlicher Betätigung. Für die breite Masse der Bevölkerung aber hängen die Sportmöglichkeiten wesentlich von der individuellen Eigeninitiative und der der »comunidad« oder des »barrios« ab, wobei damit eher die Nachbarschaft als die lokale öffentliche Administration gemeint ist.

Gerade in ländlichen Gebieten hat dabei der Sportplatz - das ist oft eine in kollektiver Selbsthilfe gerodete, einigermaßen ebene Fläche - eine eminente Funktion als sozialer Raum für Kommunikation und Begegnung. Man denke nur an die jungen Mädchen und Frauen, die als Zuschauerinnen den Sportplatz umkreisen und sich hier, da öffentlich und mithin sozial kontrolliert, sogar ohne den kleinen Bruder oder die alte Tante als Begleitung aufhalten dürfen. Oder die Alten, die zusammenstehen und ihre eigene glorreiche Sportvergangenheit Revue passieren lassen, während sich der Nachwuchs auf der »cancha« abmüht.

Die »cholitas« des bolivianischen Hochlandes, die ihre Röcke zusammenraffen und auf dreieinhalb- bis viereinhalbtausend Meter Höhe Fußball spielen, die peruanischen Mädchen, die auf jeder größeren Fläche im Freien irgend etwas finden, zwischen das sich ein Volleyballnetz oder auch nur eine Schnur spannen läßt, und natürlich die Millionen kleinen Pelés, Romários, Maradonitas oder ihre Beisbolpendants, die überall auf dem Kontinent mit und ohne Bolzplatz, am Strand und auf der Geröllhalde, auf Straßen und Parkplätzen für Minuten und Stunden spielend ihre Identität wechseln - sie sind natürlich das eigentliche »Sportvolk«. Die Freiheit ihres Spiels wird zunehmend, wenn denn Presse, Fernsehen und ein lokaler Politiker dabei sein können, zum Teil mit philanthropisch-pädagogischem Anstrich, von den Multinationalen der Sport- und Freizeitindustrie eingeladen, sich in Streetball-Turnieren und Strandfußball-Meisterschaften einzubinden. Unter den Schirmen und der Herrschaft von Pepsi-Cola kicken dann eine Woche lang einige hundert Straßen(jungen)-Mannschaften am Strand von Copacabana die Nike-Meisterschaft mit Adidas-Fußbällen aus; Romário im Benneton-T-Shirt erläutert den Wert vom Spielen im Sand, von dem Technik, Ausdauer und Brillanz des brasilianischen Fußballs und mithin auch die Größe der brasilianischen Nation abhängen, und übergibt den Pokal an die elf Sieger. Die Gewinner - der Unterschied zwischen Siegern und Gewinnern ist das vielleicht entscheidende Charakteristikum des lateinamerikanischen Sports - planen unterdessen weitere Marktstrategien für ihre Sportschuhe und Joggingdresses in der Hoffnung, daß diese Statussymbole mit Geld erworben und nicht dem Erstbesitzer mit Messer oder Schlagstock abgenommen werden. Die endemischen Raubüberfälle auf Reebok- und Nike-Schuhbesitzer nutzen den Herstellern nämlich nichts, es sei denn, sie provozierten Ersatzkäufe der Opfer.

VI

Die Sonderstellung Kubas im lateinamerikanischen Sport verdankt sich all den Faktoren, die in den übrigen Staaten fehlen: Die Langfristigkeit und Planmäßigkeit staatlicher Sportpolitik, die staatlichen Anstrengungen für Breiten- und Spitzensport, die Finanzmittel für Sportstättenbau, Trainer und Sportschulen zielen natürlich auf die (ja in fast allen Ländern verbreitete) naive Hoffnung, daß internationale sportliche Überlegenheit die Überlegenheit des sozialen und politischen Systems beweise, Sport und sportliche Erfolge zudem als Vehikel zur Erzeugung von Massenloyalität einsetzbar sind. Ist für Kuba Sport eine Frage des Prestiges, so ist es für die übrigen lateinamerikanischen Regierungen eher eine des Profits, und Profit ist wichtiger als Massenloyalität. Das heißt keineswegs, daß die Regierungen die politischen Verwertungsmöglichkeiten des Sports geringschätzten. Angesichts der mangelhaften öffentlichen Sportförderung besteht ein extrem parasitäres Verhältnis zwischen Politik und Sport. Sportpolitik wird ersetzt durch Politik, die den Sport ausnutzt: Die unverfrorene und mitunter lächerliche Ausmaße annehmende Inbeschlagnahme internationaler Sporterfolge für die dann in der Regierung inkarnierte Nation und die bewußte Ausnutzung sportbedingter Masseneuphorie oder -depression für tagespolitische Eigeninteressen gehören zum Alltag lateinamerikanischer Politikkultur. Wenn der argentinische Präsident Menem sich vor der Fernsehkamera das blau-weiße Nationaltrikot mit der Nummer 10 überstreift (der Eingeweihte weiß, das war Maradonas Nummer) oder mit Gabriela Sabatini ein Tennismatch austrägt, dann rümpfen zwar die fortschrittlichen Intellektuellen von Buenos Aires die Nase ob solch frivoler Geilheit nach Publizität, anerkennen aber Menems Gespür für effektvolle Inszenierungen. Welcher Politiker sonnt sich aber nicht gern im Glanz einer Goldmedaille? Das ist sicher keine lateinamerikanische Besonderheit.

Eher kontinentspezifisch sind die auch über den Sport ausgetragenen sozialen, rassistischen oder regionalen Konflikte in polarisierten Gesellschaften: Die Teilnahme des Altiplano-Fußballclubs Alfonso Ugarte aus Puno an der südamerikanischen Clubmeisterschaft Copa Libertadores, korrekt erworben durch die nationale Vizemeisterschaft, mobilisierte die Ängste der Eliten und Sportmonopolisten Limas. Ein Provinzclub, zumal von Hochlandindios, könne international dem Ansehen Perus nur schweren Schaden zufügen; die »kulturelle Reife«, um das Land würdig zu vertreten, hätten eigentlich nur die Hauptstadtclubs. Funktionäre des peruanischen Fußballverbandes intrigierten bei der Südamerikanischen Fußballvereinigung und nutzten die Angst der anderen Mannschaften, auf 4.000 Meter Höhe in Puno antreten zu müssen: Wegen fehlender Flutlichtanlage und seines erbarmungswürdigen Stadions sollte der ärmliche Provinzclub vom Wettbewerb ausgeschlossen werden; Ersatzteilnehmer wäre ein Lima-Club geworden. Das Fußballvolk der Provinzen erhob sich ob solch schnöden Spiels: Provinzregierungen, lokale Autoritäten und »das Volk« transportierten in einem einmaligen Kraftakt die Flutlichtmasten aus Arequipa nach Puno, bauten in unbezahlten jornadas unter Beteiligung von Kindern und Alten, Ladenbesitzern und Marktfrauen, Bauern und Gewerkschaftsfunktionären in Rekordzeit den Clubacker zu einem halbwegs akzeptablen »Stadion« um, gaben dem »Heldenkind« (niño héroe), das bei den Umbauarbeiten tödlich verunglückte, ein Volksbegräbnis und feierten beim ersten Spiel um die »Copa« mit einem Volksfest die rote Karte, die sie »den Gringos aus Lima« und überall in der Welt gezeigt hatten. Alfonso Ugarte schied in der ersten Runde aus, aber das vereinte Volk hatte dennoch endlich mal gesiegt.

VII

In seinem 19. Band schaut das Jahrbuch »Lateinamerika Analysen und Berichte« auf diese Siege und Niederlagen und gesellschaftlichen Realitäten, die sich hinter den Stars und Stadien verbergen. Thomas Fatheuer zeigt in seiner Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs, wie der Weltmeister zu seinem Sport gekommen ist, und warum die Diskussion um die Moderne in Brasilien nicht in Politik oder Kulturleben, sondern im Fußball stattfindet. Aldo Panfichi, Raúl Castro Pérez und Martín Benavides untersuchen, wie in Peru aus dem Zerfall traditioneller Gemeinschaften das massenhafte Bedürfnis erwächst, in den Fan-Gemeinden rivalisierender Clubs neue kollektive Identitäten zu finden. Christine Cummings analysiert, wie die karibischen Mannschaften die Herrschaftsverhältnisse im Kolonialsport Cricket umgedreht haben: Was einst »the national game of the english race« war, ist zum stolzen Symbol schwarzen Selbstbewußtseins geworden. Ciro Krauthausen beschreibt am Fall Kolumbien die Höhenflüge und Abstürze des Sports in einem Land, in dem ein Eigentor bei der Fußball-Weltmeisterschaft das Leben kosten kann. Und wenn auch die Massensportarten Lateinamerikas durchweg aus Europa oder Nordamerika stammen, gibt es auch einen »Sport vor dem Import«: Ute Schüren berichtet über die Entwicklung des Pelota-Spiels in Mesoamerika seit vorkolonialen Zeiten und Ingrid Kummels über die soziale Bedeutung, die für die mexikanischen Rarámuri noch heute ihre legendären Superlangstrecken-Wettläufe haben.

Im Sport bedarf das konkrete, unwiederholbare, einmalige Ereignis stets der Phantasie und des anekdotischen Gedächtnisses, um Geschichte zu werden, damit zum Beispiel beim Stichwort »Maracaná« auch nach 45 Jahren (!) sofort der hunderttausendfach erzählte uruguayische 2:1-Sensationssieg über Brasilien im Weltmeisterschafts-Finale 1950 neues Leben gewinnt. Wir haben als Zwischentexte mindergewichtige Anekdoten, so farbig und so willkürlich wie der Sport, eingefügt, die als Schnappschüsse aus unterschiedlichsten Blickwinkeln daran erinnern, daß die hauptsächlichste Nebensache durch nebensächliche Nebensachen erst reizvoll wird.

Die Länderberichte dieses Bandes sind, wie immer, nicht einfache Dokumentation der Ereignisse des vergangenen Jahres, sondern konzentrieren sich auf die Analyse vor allem für die Zukunft bedeutsamer Aspekte des jeweiligen Landes. Herausgeberinnen und Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren und allen an diesem Band Beteiligten dafür, daß ihre Arbeit ein weiteres Mal das Erscheinen dieses Jahrbuchs ermöglicht hat.

Besonderer Dank gilt der Kooperation mit dem Verlag. Er wird diesmal geprägt durch unsere Bestürzung über den Tod des Verlagsgründers Jürgen Horlemann, Mitstreiter der deutschen Linken der 68er Zeit und der Solidaritätsbewegung mit der Dritten Welt. Wir beklagen auch den Verlust von Jean-Claude Antoine, dem Jahrbuch als Autor verbunden und zentrale Persönlichkeit der haitianischen demokratischen Opposition. Wir trauern um diese Kollegen und Freunde, die wir nicht vergessen werden.

Albrecht Koschützke


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