Land und Freiheit

Lateinamerika. Analysen und Berichte Band 21

Horlemann Verlag Bad Honnef 1997 · ISBN 3-89502-070-2

(herausgegeben von K. Gabbert, W. Gabbert, B. Hoffmann, A. Koschützke, K. Meschkat, C. Müller-Plantenberg, U. Müller-Plantenberg, E. von Oertzen und J. Ströbele-Gregor)

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Inhaltsverzeichnis

Editorial 7

Land und Freiheit

Nachruf auf Barbara Beck 13

I Analysen 15

Michael Windfuhr: 17

Die Rolle des Agrarsektors
Politische und rechtliche Rahmenbedingungen von Ernährungssicherheit

Ute Schüren: 33

»Land ohne Freiheit«: Mexikos langer Abschied von der Agrarreform

Thomas Fatheuer: 68

Die Wiederkehr des Verdrängten

Agrarreform und soziale Bewegungen in Brasilien

Heidi Feldt und Michael Krämer: 84

Kein Land in Sicht - Die Agrarfrage in El Salvador nach dem Bürgerkrieg

Rainer Huhle: 99

Rckkehr in die Zukunft? Das Leben in den Brgerkriegsgebieten Perus
nach der Vertreibung des Sendero Luminoso

Carmen Diana Deere: 112

Die Reform der kubanischen Landwirtschaft

Gerrit Huizer: 137

Indigene Spiritualität und Volkswiderstand

Wolfgang Gabbert: 167

Chiapas - Die Grenzen der Kooptation und der Aufstand von 1994

II Berichte 187

Jorge Schvarzer: 189

Argentinien 1996: Der Beginn der politischen Krise
als Ende des langen Zyklus erfolgreicher Stabilisierung

Ulrich Goedeking 200

Bolivien: Großer Wurf oder große Worte?

Barbara Fritz: 213

Brasilien: Bye-bye Neoliberalismus, hello Globalisierung!

Elmar Römpczyk: 225

Chile: Wieviel Modellhaftes kann sich das Land noch leisten?

Albrecht Koschützke: 238

Dominikanische Republik: Die Schatten der Caudillos werden kürzer

Werner Lamottke: 249

Guatemala: Frieden - und soziale Ungerechtigkeit hoher Intensität

Carole Sambale-Tannert: 258

Haiti: Der schwierige Weg zu einer gemeinsamen politischen Kultur

Gerhard Dilger: 268

Kolumbien: Machterhalt um jeden Preis

Ralf Leonhard: 278

Nicaragua: Die zweite Abwicklung der Sandinistischen Revolution

Martin Ling: 288

Trinidad und Tobago: Ende der afrotrinidadischen Dominanz?

Autorinnen und Autoren dieses Bandes 296


Editorial: Land und Freiheit

I. Bauern

Lange Zeit wurde die Bauernschaft in marxistischen und nichtmarxistischen Kreisen im wesentlichen als konservatives Element verstanden, das für die einen der sozialen Revolution, für die anderen der gesellschaftlichen Modernisierung, genauer gesagt: der Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse, entgegenstünde. Erst als sich in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Erkenntnis durchsetzte, daß die Revolution wohl nicht von der Arbeiterklasse in den Ländern der Metropolen ausgehen würde, setzte ein Umdenkungsprozeß ein. Tatsächlich hatten die großen sozialen Erhebungen des 20. Jahrhunderts in der Peripherie stattgefunden, und die Bauernschaft hatte in diesen Prozessen eine zentrale Rolle gespielt. So avancierten die Bauern in der Dritten Welt in den sechziger und siebziger Jahren zum neuen »revolutionären Subjekt« und bildeten auch in den Augen der bürgerlichen Sozialwissenschaften das wichtigste Element, das über die Stabilität oder Instabilität der dortigen politischen Regime entschied. Die hierin anklingenden Hoffnungen bzw. Befürchtungen erfüllten sich jedoch nur in sehr eingeschränktem Maße. Die von reformistischen und revolutionären Regierungen durchgeführten Agrarreformen bewirkten in der Regel zwar nur eine begrenzte Verbesserung der Lebensbedingungen, es gelang jedoch vielfach, große Teile der ländlichen Bevölkerung in das politische System einzubinden oder zumindest ihre Proteste systemimmanent zu halten. Das Zentrum sozialer Auseinandersetzungen verlagerte sich in andere Bereiche. Daß sich das Interesse vieler Beobachter seit den siebziger Jahren zunehmend auf die »Neuen Sozialen Bewegungen« (Stadtteil-, Indianer-, Frauenbewegungen usw.) konzentrierte, hängt nicht nur mit diesem »Erfolg« der Agrarreformen zusammen, sondern ist auch auf die wachsende Urbanisierung zurückzuführen.

Die politische und soziale Bedeutung des ländlichen Sektors und die Präsenz von Organisationen von Landarbeitern und Kleinbauern wird jedoch häufig unterschätzt. Auch heute noch lebt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Lateinamerikas auf dem Land. Zudem sind in vielen Ländern die Provinzstädte zu wichtigen Aufnahmezentren für Migrantinnen und Migranten geworden. Vielfach bestreiten diese aber weiterhin ihren Lebensunterhalt im Agrarsektor, nämlich als billige Arbeitskräfte für die Exportproduktion von Blumen, Gemüse und anderen Produkten. Dies ist nur eine Facette des veränderten Verhältnisses von Stadt und Land. Diese sozialen Räume sind in den letzten Jahrzehnten nicht nur durch die Migration, sondern auch durch den massiven Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen näher zusammengerückt. Kleinstädte sind zunehmend auch zu Zentren des politischen Austauschs geworden, was neben dem wachsenden Einfluß der Massenkommunikationsmittel und der Ausdehnung der Schulbildung in viele ländliche Zonen erhebliche Auswirkungen auf die Bewußtseinsentwicklung innerhalb der Landbevölkerung hat. Damit haben sich die Rahmenbedingungen politischen Handelns von Landbevölkerung entscheidend verändert. Wie das Beispiel des Aufstands der Zapatistischen Befreiungsarmee in Chiapas verdeutlicht, findet ländlicher Protest nicht mehr im wesentlichen in isolierten, »vergessenen« Räumen der einzelnen Staaten statt, sondern wird zunehmend - unter anderem mit Hilfe der neuen Kommunikationsmittel - über die nationalen und internationalen Öffentlichkeiten ausgetragen. Die miserablen Lebensbedingungen großer Teile der Landbevölkerung, die immer noch den mit Abstand größten Prozentsatz der Armen in Lateinamerika ausmachen, erhalten so eine neue politische Brisanz. Zudem scheint die Aufnahmefähigkeit für Migranten vieler Großstädte mehr und mehr an ihre Grenzen zu stoßen.

Die vor allem in den letzten zwanzig Jahren gewachsenen Indígena-Bewegungen sind oft keine gänzlich neuen Erscheinungen. Vielfach handelt es sich um Vereinigungen, die sich früher im wesentlichen als Kleinbauern definierten und vor allem die Agrarfrage ins Zentrum ihrer Rhetorik stellten. Sie entsprachen damit dem in Lateinamerika bis in die siebziger Jahre dominierenden Diskurs nationaler Integration und kultureller Homogenisierung (vgl. hierzu Jahrbuch 16). Dieser Diskurs ist jedoch angesichts der Unfähigkeit lateinamerikanischer Staaten zu einer wirklichen Integration indigener Bevölkerungsgruppen und des Fortbestehens von Vorurteilen und Diskriminierung zunehmend brüchiger geworden. Dies hat sich mit dem Interesse neoliberaler Regime an einer Schwächung der staatlichen Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Bereich verbunden. Ihr Interesse an einer gesellschaftlichen Integration ist auf die Qualität großer Bevölkerungsteile als Konsumenten beschränkt. Die allerorten zu beobachtende Dezentralisierung von Verwaltungen entspricht zwar einerseits dem neoliberalen Interesse an einem Rückzug des Staates (aus bestimmten Bereichen), sie hat jedoch auch neue Handlungs- und Organisationsräume für die Landbevölkerung eröffnet. Während die herrschenden Eliten unter Dezentralisierung häufig lediglich eine Dekonzentration von Verwaltung verstehen und der Zentralstaat die Verwaltung des Mangels nicht ungern der lokalen Ebene überläßt, hat der Dezentralisierungsdiskurs andererseits die Entstehung von Forderungen nach politischer Autonomie befördert. So haben sich die früher von Bauernorganisationen artikulierten Forderungen nach Land in den Anspruch auf eigene Territorien modifiziert, der nun von Vereinigungen vorgebracht wird, die sich häufig als »indigen« charakterisieren. Dieser beinhaltet die Sicherung von Landrechten, aber auch politische Autonomie und berührt zudem die zentrale Frage nach der Nutzung vorhandener Naturressourcen.

II. Nahrungsmittelsicherheit

Eine der wichtigsten Fragen der menschlichen Existenz ist die Sicherstellung der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Sie stellt sich heute in einer Zeit der zunehmenden Verwüstung von Regionen, der Erodierung von Böden, der Überschwemmung von Wäldern und der Erhitzung der Erdatmosphäre durch eine auf die massive Nutzung fossiler Energiequellen basierenden Industrialisierung auf globaler Ebene. Wo das Ziel des Wirtschaftens nicht mehr die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller ist, ist die Reproduktion des Lebens auf diesem Planeten überhaupt gefährdet.

Während der ländliche Sektor bis in die jüngste Vergangenheit häufig von den Sozialwissenschaften vor allem unter den Gesichtspunkten der Landbesitzverteilung, der Arbeitsverhältnisse und der politischen Organisationspotentiale von Kleinbauern und Landarbeitern betrachtet wurde, gerät heute darüber hinaus in den Blick, was die sich beschleunigende, allein an quantitativem Wachstum orientierte Industrialisierung dem Boden, den Wäldern, den Flüssen, aber auch den meist stärker in die lokalen Ökosysteme eingepaßten Kleinbauern und indigenen Völkern abverlangt.

Das herrschende Industrialisierungsmodell hat zudem Stadt und Land weitaus enger miteinander verwoben, als dies bislang der Fall war. Hier sind nicht nur die weiter zunehmende Land-Stadt-Migration infolge von Verelendungsprozessen im ländlichen Raum zu nennen, sondern auch seine ökologischen Konsequenzen (Versteppung, Vergiftung des Landes und der Flüsse). Diese schränken die in Zukunft praktizierbaren land- und forstwirtschaftlichen Produktionssysteme drastisch ein, was die Versorgung mit Nahrungsmitteln von Land und Stadtbewohnern gleichermaßen problematisch werden läßt.

Bei der Frage nach der Nahrungsmittelsicherheit geht es jedoch nicht nur um die zur Versorgung der Weltbevölkerung notwendigen Mengen an Nahrungsmitteln, das heißt um eine Vergrößerung der Erntemengen durch Produktivitätssteigerungen. Es geht auch um die Fähigkeit von Personen und Regionen zur Selbstversorgung, das heißt unter anderem darum, wie die sozialen Zugangsmöglichkeiten von Hungernden und chronisch Unterernährten zu Nahrungsmitteln verbessert werden können. Dabei ist der Schutz der kollektiven Eigentumsrechte am Wissen von indigenen Völkern und Kleinbauern über den Umgang mit den über Jahrhunderte selbst gezüchteten Arten von zentraler Bedeutung, denn die Artenvielfalt - Grundlage der Ernährungssicherung - wurde historisch durch Kleinproduzenten aufrecht erhalten und vermehrt. Mit der Konzentration des Landbesitzes, dem Versanden von Agrarreformprozessen, der Zunahme spekulativen Kapitals, das auch auf dem Land nach profitablen kurzfristigen Anlagemöglichkeiten sucht, werden die Kleinproduzenten jedoch mehr und mehr verdrängt. Heute ist ihr Zugriff auf die biologische Vielfalt der von ihnen bewirtschafteten Arten durch multinationale Konzerne gefährdet. Diese nutzen sie ohne die Kenntnis, das Einverständnis oder eine angemessene Beteiligung der indigenen Völker am erzielten Gewinn kommerziell als Grundlage für weitere Züchtungen und industrielle Nutzung. Im Labor manipuliertes genetisches Material wird dann zu einem Patent, das nur verwenden darf, wer dafür bezahlt. Das internationale System der Agrarforschung hat seine Anstrengungen zur Erhaltung der Artenvielfalt bislang ausschließlich auf die Sammlung von Genmaterial ex situ, das heißt in zentralen Genbanken außerhalb der Ursprungsregionen beschränkt. Diese konventionellen Maßnahmen sind jedoch immer durch die Unsicherheit der Politik, der Finanzen und der Regierungen bedroht. Genbanken dürfen daher nur komplementär zu der gemeinschaftlichen Konservierung durch die lokalen Kleinproduzenten vor Ort eingerichtet werden.

Das tradierte Agrarwissen von indigenen Gemeinschaften und Kleinbauerngemeinden hat heute eine strategische Bedeutung für den Erhalt der Artenvielfalt und damit die Zukunft der Versorgung der Weltbevölkerung mit Nahrung. Ihre Widerständigkeit eröffnet Perspektiven für eine Entwicklungsstrategie, welche die Ökosysteme erhält.

III. Ökonomie

Die neoliberale Heilslehre erhebt die Ökonomie zum alleinigen Maßstab gesellschaftlicher Entwicklung. Globalisierung und »freier Welthandel« ist ihr Motto. Wie zu Hochzeiten des klassischen Imperialismus wird den Ländern der Dritten Welt in der Weltarbeitsteilung erneut die Rolle als Rohstofflieferanten für die Metropolen zugewiesen. Statt Produkte für den einheimischen Konsum sollen in Lateinamerika Blumen, Erdbeeren und Gemüse für die Verbraucherinnen und Verbraucher in den USA und der EG angebaut werden. Grundnahrungsmittel könnten dagegen »billiger« von den hoch produktiven (und hochsubventionierten) Bauern der Metropolen importiert werden. Der Anbau von Grundnahrungsmitteln (häufig durch Kleinbauern) wird so zunehmend durch Exportprodukte verdrängt. Dieser Austausch und das in diesem Zusammenhang von der Weltbank empfohlene Konzept der »trade based food security« mag in vielen Fällen zumindest zeitweise durchaus funktionieren. Er schafft jedoch neue Unsicherheiten und verstärkt das Abhängigkeitsverhältnis Lateinamerikas von den zentralen Staaten. Diese Abhängigkeit ist keineswegs gegenseitig. Im Rahmen dieser Wirtschaftsstrategie werden die Länder Lateinamerikas zunehmend vom Import zur Versorgung der Bevölkerung absolut notwendiger Grundnahrungsmittel abhängig. Ihre Exporte können dagegen in den Metropolen im Zweifelsfalle ohne große Schwierigkeiten durch Einfuhren aus anderen Regionen ersetzt werden und im Notfall ganz wegfallen, da sie aus Produkten bestehen, die für die Ernährung der Bevölkerung nicht zentral sind. Die Grundversorgung der Bevölkerungsmehrheit in Lateinamerika wird zudem direkt von Wechselkursschwankungen abhängig. Maiseinfuhren aus den USA, die gestern noch billig waren, können durch einen Anstieg des Dollarkurses morgen schon unerschwinglich sein. Dieses Problem wird durch das wachsende Nahrungsmitteldefizit in den Ländern der Dritten Welt und den daraus folgenden Anstieg der Weltmarktpreise für diese Güter in Zukunft noch größer werden. Eine Rückkehr zum Anbau von Grundnahrungsmitteln in Lateinamerika ist dann jedoch kaum noch möglich. Zudem beruht die (vorgebliche) Wirtschaftlichkeit dieser Landwirtschaftsstrategie neben einer tatsächlich im Durchschnitt höheren Produktivität des Getreideanbaus in den USA und der EG auch auf der bornierten Übertragung einer betriebswirtschaftlichen Rationalität auf die Steuerung der Gesamtwirtschaft von Gesellschaften. Denn in die gängigen Wirtschaftlichkeitsberechnungen fließen weder die Folgekosten des immensen Energieeinsatzes in der Landwirtschaft der Metropolen, noch die sozialen Folgekosten der Agrarexportstrategie in Lateinamerika ein. Sie geben also lediglich Aufschluß darüber, wie hoch die monetären Kosten einzelner Produzenten sind. Zieht man dagegen eine Energiebilanz, die die Hektarerträge mit der eingesetzten Energie in Zusammenhang bringt, schneidet die Turbolandwirtschaft der USA und EG denkbar schlecht ab, da dort häufig mehr Energie eingesetzt als in Form von Nahrungsmitteln an Erträgen produziert wird. Eine rationale Abwägung über die zu wählende landwirtschaftliche Strategie hätte all dies zu berücksichtigen, um den Interessen der Bevölkerungsmehrheiten gerecht zu werden.

Verschuldung, der Verfall der Rohstoffpreise und Zinssteigerungen führten seit Beginn der achtziger Jahre immer wieder zur Zahlungsunfähigkeit lateinamerikanischer Staaten. Die GATT - Verhandlungen hatten eine Streichung von Agrarsubventionen und allgemeine Liberalisierung des Handels zur Folge. Der Exportsektor gewann eine Schlüsselstellung für das wirtschaftliche Wachstum. Eine restriktive Steuer-, Geld- und Finanzpolitik erzwang die Drosselung von Importen und die Ausweitung der Exporte. Privater Konsum und private Investitionen wurden eingeschränkt, die Staatsausgaben reduziert, um den Schuldendienstzahlungen nachkommen zu können. Dennoch stieg die Verschuldung des Kontinents von 1981 bis 1994 von 296 auf 520 Milliarden Dollar an. Die neoliberale Wirtschaftspolitik konnte keines der selbstgesteckten Ziele erreichen. Weder wurde die Verschuldung verringert, noch gelang auch nur ansatzweise eine Lösung der besonders auf dem Land gravierenden sozialen Probleme. Im Gegenteil, das Fehlen einer spezifischen Sozialpolitik hat die Grundbesitzkonzentration erhöht, den Arbeitsmarkt zu Lasten der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung verändert und Landflucht und Urbanisierung überall beschleunigt. Die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten hat weiter zugenommen. 1990 betrug der Anteil der extrem Armen in Lateinamerika 46 Prozent. Zwischen 1970 und 1990 stieg die Zahl der unterhalb des Existenzminimums lebenden Menschen von 54 auf 93 Millionen. Schließlich führten die Strukturanpassungspolitiken im Agrarsektor in der Regel nicht einmal zu einer Steigerung der Produktionskapazitäten. In Brasilien und Argentinien, die tatsächlich Produktionssteigerungen in diesem Bereich verzeichnen, sind diese nicht auf Strukturanpassungspolitik zurückzuführen sondern vielmehr auf die Kreditpolitik, technologischen Wandel, Infrastrukturausbau bzw. die Organisierung von Märkten.

IV. Zu diesem Band

Die Regierungen Lateinamerikas beachten den Schutz indigener Landrechte, so Michael Windfuhr, relativ wenig. Zugleich wird der Landbesitz im Zuge der Globalisierung vielfach noch weiter konzentriert, Kleinbauern und indigene Völker mehr und mehr verdrängt. Das alte Thema der Agrarreform hat folglich nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Ute Schüren analysiert in ihrem Beitrag die Geschichte der Agrarpolitik Mexikos nach der Revolution von 1910 und die aktuelle neoliberale Gegenreform im Agrarbereich. Sie zeigt, daß eine bloße Landverteilung keineswegs ausreicht und daß Faktoren wie der Zugang zu Infrastruktur, Kapital, Absatzmärkten usw. für die Bauern von zentraler Bedeutung sind. So sieht auch ein Teil der Landlosen in Brasilien, wie Thomas Fatheuer ausführt, den Ausweg aus ihrer Misere nicht in der Wiederherstellung bäuerlicher Strukturen, sondern in der Besetzung unbewirtschafteten Großgrundbesitzes und der Etablierung kollektiver Produktionsformen in modernen Großbetrieben. In El Salvador ist, wie Heidi Feldt und Michael Krämer darlegen, die Agrarfrage auch nach dem Ende des langjährigen Bürgerkrieges einer Lösung ebensowenig nähergekommen wie in Brasilien. Dort wie in Zentralamerika wäre dies jedoch eine entscheidende Voraussetzung für eine dauerhafte Stabiliserung demokratischer Strukturen. Reiner Huhle beschreibt den komplizierten Rückkehrprozeß von peruanischen Bauern in ihre Heimat im Hochland, aus der sie während des »schmutzigen Krieges« zwischen der peruanischen Armee und dem Sendero Luminoso flüchten mußten. Carmen Diana Deere untersucht in ihrem Beitrag die Reorganisierung des kubanischen Agrarsektors, in dem heute neben staatlichen Großfarmen auch von den Landarbeitern selbst geführte Kooperativen entstehen.

Der Beitrag von Gerrit Huizer analysiert das überlieferte Wissen über Ökosysteme und Artenvielfalt und die Spiritualität indigener Bauern als wichtige Grundlagen ihrer Fähigkeit, der Eroberung, Christianisierung und Integration in den kapitalistischen Markt zu widerstehen. Wolfgang Gabbert beleuchtet die Vorgeschichte des zapatistischen Aufstandes in Chiapas, Mexiko. Dort sind es im Unterschied zu vielen anderen tropischen Tieflandregionen gerade die aus dem Hochland abgewanderten indianischen Kleinbauern, die unter spezifischen Bedingungen zum Kern der Zapatistischen Bewegung geworden sind und damit begonnen haben, Perspektiven einer selbstbestimmten Entwicklung anzudeuten.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber


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