Die Macht und die Herrlichkeit
Lateinamerika. Analysen und Berichte Band 22
Horlemann Verlag Bad Honnef 1998 · ISBN 3-89502-083-4
(herausgegeben von K. Gabbert, W. Gabbert, B. Hoffmann, A. Koschützke, K. Meschkat, C. Müller-Plantenberg, U. Müller-Plantenberg, E. von Oertzen, L. Rossbach de Olmos und J. Ströbele-Gregor)
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Inhalt 5
Editorial 7
Die Macht und die Herrlichkeit
I Analysen 11
Ulrich
Goedeking: 12
Der etwas andere Neoliberalismus:
Wie eine Elite in Bolivien versucht, das Land zu
demokratisieren
Peter Imbusch: 36
Die Mächte der Vergangenheit in den
Herrschaftsstrukturen
der Gegenwart: der Fall Chile
Maria Dolores
Albiac Murillo: 59
Die Reichsten der Reichen El Salvadors
Zur Entwicklung der herrschenden Klassen
Lioba Kogan: 76
Die besseren Kreise und das Geschlechterverhältnis -
Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit in der
peruanischen Oberschicht
Luigi Manzetti
und Charles H. Blake: 93
Marktreformen und Korruption in Lateinamerika:
neue Gelegenheiten für alte Gebräuche
Dirk Kruijt: 125
Alte Sünder im neuen Gewand?
Militär und Gesellschaft in Lateinamerika
Melanie Quandt: 149
Die zyklische Wiederkehr der Erinnerung -
Die Kontroverse um die Rolle der Streitkräfte in
Argentinien
II Berichte 175
Barbara Fritz
und Barbara Happe: 176
Brasilien: Schockwellen aus Asien...
...und Wasserautobahn zum Mercosur
Elisabeth
Schumann: 186
Ecuador: Zurück zur Regierbarkeit!?
Peter
Schumacher: 197
Kolumbien: Reden vom Frieden - mitten im Krieg
Ingo Bultmann: 208
Mexiko: zwischen Demokratie und Bürgerkrieg
Ralf Leonhard: 217
Nicaragua: Seine Majestät, der Herr Präsident
Carlos Iván Degregori: 227
Peru: zwischen der Geiselkrise und »El Niño«
Autorinnen und Autoren dieses Bandes 240
Editorial
Die Macht und die Herrlichkeit
Seit der Kapitalismus begonnen hat, die Gesellschaftsstrukturen in den lateinamerikanischen Ländern entscheidend mitzubestimmen, ist die Konzentration des Reichtums und der ökonomischen Macht noch nie so überwältigend gewesen wie heute. Und diese Konzentration schreitet fort, weil gerade die Reichen und Mächtigen unter den heute herrschenden Bedingungen neoliberaler Wirtschaftspolitik die Chance erhalten, der allgemeinen Devise »Bereichert Euch!« in besonders intensiver Weise nachzukommen. Und weil die politische Macht unter diesen Umständen der ökonomischen Macht kaum noch etwas entgegenzusetzen hat, bestimmen die Reichen und Mächtigen weitgehend selbst über die Spielregeln, die sie dann zwangsläufig zu weiteren Gewinnen führen. Weil diese Spielregeln entweder überhaupt politische Eingriffe in das Wirtschaftsleben oder wenigstens solche zum Nachteil der Reichen und Mächtigen ausschließen, gelten sie als »natürlich«, als rein »technische« Lösungen, als Ausweis »ökonomischer Vernunft«.
In einem Land wie Mexiko, das trotz Mitgliedschaft in der Organisation der reichen Länder für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) noch immer als Entwicklungsland, allenfalls als Schwellenland gehandelt wird und dessen Massen an Armen und Notleidenden mit Gewalt und Mauer und Stacheldraht an der Suche nach Arbeit jenseits der Grenze in den USA gehindert werden, ist die »Dichte« an Dollar-Millionären und -Milliardären größer als auf der anderen Seite dieser Grenze. Sie leben - nicht nur in Monterrey, wo diese »Dichte« besonders groß ist- in weiträumigen, auch von Mauer und Stacheldraht umgebenen Reichen-Ghettos, die sich von gleichartigen Paradiesen in den Industrieländern allenfalls dadurch unterscheiden, daß es mehr dienstbare Geister gibt, die zu niedrigsten Löhnen persönliche Dienste verrichten.
Sie sind - wie ihre Ebenbilder in den anderen lateinamerikanischen Ländern - längst Teil der Ersten Welt und auf allen Flughäfen, Golfanlagen und Logenplätzen des Globus zu Haus, obwohl sie nicht vergessen, daß sie ihr Wohlergehen den gesellschaftlichen Strukturen ihres Heimatlandes verdanken, und deshalb nicht versäumen, für deren Festigung aktiv zu sorgen.
Angesichts der verbreiteten und sich in Zeiten schlechter Konjunktur noch weiter vermehrenden Armut in Lateinamerika stellt diese Situation objektiv einen ungeheuerlichen Skandal dar, aber sie wird von der organisierten öffentlichen Meinung nicht als Skandal empfunden. Mehr noch: In den Sozialwissenschaften wie in der Politik gilt es als ausgesprochen unfein, unseriös und unmodern, Begriffe wie »Macht« und »Herrschaft« überhaupt zu benutzen, von Kategorien wie »Klasse« oder gar »Klassenkampf« gar nicht erst zu reden.
Den Mächtigen und Herrschenden, die es ja zweifellos und sogar noch mächtiger und herrlicher als früher gibt, wird es gestattet, sich hinter den als unausweichlich propagierten neoliberalen Strukturreformen zu verstecken und als »vernünftige« Verwalter jener Sachzwänge auszugeben, die angeblich aus der Globalisierung des Wirtschaftslebens erwachsen. Jedwede Abweichung von dieser Richtschnur wird mit dem Mode gewordenen Schimpfwort »Populismus« belegt und entsprechend abgekanzelt.
Gleichwohl wird den Mächtigen und Herrschenden erlaubt, zur Legitimation ihrer gesellschaftlichen Praxis und ihrer Politik neben Effizienz und Modernität auch Demokratie und soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahne zu schreiben. Unterstützt werden sie in diesem Bemühen durch die internationalen Finanzorganisationen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, die mit den von ihnen durchgesetzten »Strukturanpassungen« und den dafür gewährten Krediten nicht nur über die Verschuldungskrise der lateinamerikanischen Ökonomien hinweggeholfen, sondern auch ihre Definitionsmacht im Bereich von Wirtschaft und Politik etabliert haben. Zu ihren Gunsten schlägt auch das Bemühen um ausländische Direktinvestitionen aus. Wo das Auslandskapital, der »Große Abwesende« in den lateinamerikanischen Gesellschaftsstrukturen, der gleichwohl immer sehr präsent ist, wo dieses Auslandskapital umschmeichelt wird, damit die transnationalen Konzerne kommen und bleiben, müssen die heimischen Reichen ordentlich bedient werden, damit sie bleiben und nicht gehen.
Alte und neue Medien produzieren und reproduzieren immer von neuem den Diskurs, wonach die Reichen und Mächtigen es auf sich nehmen müssen, die anstrengende Rolle zu spielen, die einer Elite zukommt. Das reicht bis zu den Telenovelas, den Seifenopern des Fernsehens, in denen die - oft genug auch noch blonden - Heldinnen und Helden der Oberschicht den Publikumsmassen zum Zwecke der Identifikation präsentiert werden. Und häufig genug wird dieser Diskurs vom Segen der Kirche begleitet, wenn sie nicht sogar selbst über mächtige und machthungrige Orden wie Opus Dei am großen Spiel beteiligt ist.
Die Gruppe derer, die heute reich und mächtig sind, rekrutiert sich dabei aus durchaus verschiedenen Schichten. Ein guter Teil der alten Agrar- (und Bergwerks-) Oligarchie, die in fast allen lateinamerikanischen Ländern seit der Kolonialzeit bis ins zwanzigste Jahrhundert den Ton angab, hat ihren Reichtum und ökonomischen Einfluß durch geschickte Anpassung an die Erfordernisse der neuen Zeiten herüberretten können. Namen aus alten und traditionsreichen Familien sind nicht selten auch in der heutigen Oberschicht zu finden.
Je nach dem Grad des Vordringens der Industrialisierung und der Durchsetzung moderner Dienstleistungen (Banken, Handel, Versicherungen, Immobilien) haben aber die traditionellen Oligarchien Terrain an neue Schichten abtreten müssen, die im Zusammenspiel von Effizienz und günstigen Gelegenheiten einen Platz an der Sonne erobern konnten. Die relative Schwächung der alten Oligarchien machte es auch möglich, daß in der Sphäre des Politischen heute oftmals neue Leute den Ton angeben können, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Die Menemisten in Argentinien oder der peruanische Präsident Alberto Fujimori etwa sind typische Beispiele dafür, an denen auch klar wird, daß eine Politik zugunsten der Konzentration des Reichtums nicht unbedingt nur eine Eigenart der alten Oligarchien ist.
Natürlich hat es neben den legalen und gesellschaftlich legitimierten Formen der Bereicherung immer auch Methoden der Aneignung gegeben, die von der Gesellschaft an sich nicht als legitim angesehen werden können oder die schlicht illegal sind. Der Drogenhandel hat beispielsweise in Ländern wie Kolumbien, Peru und Bolivien seit den siebziger Jahren Reichtümer geschaffen, wie sie bis dahin unbekannt waren . Über den Umweg der Geldwäsche finden die Erlöse aus dem Drogenhandel den Weg in den Wirtschaftskreislauf und sorgen so für eine neue Zusammensetzung der Schicht der Reichen und Mächtigen.
Ähnliches gilt für die von staatlicher Seite ermöglichte Korruption, die - paradoxerweise oder auch nicht - am heftigsten in Zeiten einer Privatisierung aufblüht, in denen sich der Staat seines Einflusses auf die Wirtschaft möglichst schnell zu entledigen sucht. Und es gilt für die Militärdiktaturen, in denen sich die Gruppen, die mit Gewalt die Macht erobert haben, selbst ungestraft und unkontrolliert Privilegien zuschanzen, die sie von nun an zu den Reichen und Mächtigen zählen lassen.
Im vorliegenden Band konnten nicht alle Problembereiche, die mit diesem in jeder Hinsicht großen Thema zusammenhängen, behandelt werden. Und noch weniger konnte von den Autorinnen und Autoren erwartet werden, daß sie den Königsweg zu einer Gesellschaft aufzeigen, in der Macht abgebaut wird und auch die Armen reicher werden. In einer Zeit aber, in der die Benutzung der Begriffe Macht und Herrschaft als anstößig gilt, kann die genaue Beschreibung von realen Zuständen schon ein befreiender Schlag sein. In jedem Fall können sich die Leserinnen und Leser davon überzeugen, daß alle Beiträge in diesem Band weit davon entfernt sind, einem affirmativen Elitedenken das Wort zu reden.
Der Analyseteil des Bandes beginnt mit einer Betrachtung von Ulrich Goedeking über den Versuch, das politische System Boliviens für Gruppen zu öffnen, die bislang kaum darin vertreten waren. Indigene Gruppen, Teile der Linken, Intellektuelle und Unternehmer unterstützten das Projekt des Präsidenten Sánchez de Losada, die Wirtschaft in neoliberalem Sinne zu modernisieren und zugleich das politische System zu dezentralisieren. Es wird sich zeigen müssen, ob die Ergebnisse dieser Reformen die Regierungszeit des neuen Präsidenten (und alten Diktators) Hugo Banzer überstehen werden.
In seiner Analyse der gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen in Chile weist der Marburger Soziologe Peter Imbusch nach, wie sehr die politischen Kräfte, die während der Diktatur des Generals Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 das Sagen hatten, die Machtverhältnisse auch für die Zukunft festgeschrieben haben.
Die herrschenden Klassen El Salvadors sind das Thema einer Analyse der spanischen Journalistin María Dolores Albiac Murillo, in der sie akribisch festhält, mittels welcher Mechanismen sich der - relative - Auf- und Abstieg der reichen Familien El Salvadors vollzieht.
Mit ihrer Darstellung der Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit in der Oberschicht Perus ermöglicht die peruanische Soziologin Lioba Kogan einen Einblick in das sich nur allmählich verändernde Innenleben der besseren Kreise dieses Landes und vor allem seiner Hauptstadt.
Die Korruption als Mittel der Bereicherung ist in Lateinamerika nichts Neues. Die Politologen Luigi Manzetti aus Italien und Charles H. Blake aus den USA zeigen in ihrer Analyse der Privatisierungsprozesse in Argentinien, Brasilien und Venezuela, daß die kriminelle Energie der Herrschenden, wo die Gelegenheit günstig ist, im Zweifelsfall keine Grenzen kennt.
Die Rolle der Militärs als Teil und Garanten des politischen Systems in Lateinamerika im allgemeinen und in Guatemala und Peru im besonderen zu untersuchen, ist die Aufgabe, die sich der niederländische Politologe Dirk Kruijt gestellt hat. In beiden Ländern haben sie sich auch nach der formalen Demokratisierung einen festen Platz im Machtgefüge erobert, ohne daß sie eine Aufgabe angeben könnten, die ihre Existenz rechtfertigt.
Wegen ihrer schmählichen Niederlage im Falklands-/Malvinen-Krieg und der allgemeinen Finanzkrise ihres Staates haben die argentinischen Militärs dagegen in den letzten Jahren einen erheblichen Verlust an Reichtum, Macht und Einfluß hinnehmen müssen. Die in Brüssel arbeitende Politologin Melanie Quandt zeigt in ihrem Artikel, wie nun dazu auch noch - trotz aller Beschwichtigungsversuche - die Erinnerung an die Verbrechen der Militärs während ihrer Diktatur 1976-1983 immer wieder hochkommt und einen neuen Machtzuwachs der Militärs - wenigstens vorläufig - verhindert.
Wie jedes Jahr haben die Herausgeberinnen und Herausgeber allen zu danken, die durch Mitdenken, Schreiben, Übersetzen und Korrigieren der Artikel im Analyseteil und der Länderberichte im zweiten Teil des Buches geholfen haben, daß auch dieser 22. Band der Jahrbuchreihe zustandekommen konnte.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber