Lateinamerika
Analysen und Berichte 23

 

Migrationen

 

Herausgegeben von

Karin Gabbert, Wolfgang Gabbert, Bert Hoffmann,
Albrecht Koschützke, Klaus Meschkat, Clarita Müller-Plantenberg,
Urs Müller-Plantenberg, Eleonore von Oertzen und Juliana Ströbele-Gregor

 

HORLEMANN

Inhalt                                                                                                                                                   5

Editorial                                                                                                                                                7

Migrationen

I Analysen                                                                                                                                         15

Ninna Nyberg Sørensen:                                                                                                                    16

Mobile Lebensführung zwischen der Dominikanischen Republik,
New York und Madrid

Ludger Pries:                                                                                                                                     39

Transnationale soziale Räume zwischen Nord und Süd
Ein neuer Forschungsansatz für die Entwicklungssoziologie

Thomas Winschuh:                                                                                                                            55

Die Nachfrageseite der Migration: die USA als Arbeitsmarkt

Pedro Monreal:                                                                                                                                 73

Migration und Überweisungen: Anmerkungen zum Fall Kuba

Elke Schäfter und Susanne Schultz:                                                                                                  97

Putzen, was sonst? Latinas in Berlin:
Bezahlte Hausarbeit als Arbeitsmarkt für Migrantinnen

Nora Segura Escobar:                                                                                                                     111

Flucht und interne Vertreibung in Kolumbien

Ruth Stanley:                                                                                                                                   136

Nachholende Modernisierung durch Wissenschaftsmigration?

Anwerbung und Einsatz deutscher Rüstungsfachleute
in Argentinien und Brasilien nach 1945

II Berichte                                                                                                                                       155

Thomas Fatheuer:                                                                                                                           156

Brasilien: Eine Schadensbesichtigung

Urs Müller-Plantenberg:                                                                                                                 168

Chile: Keine Angst vor Sozialismus

Mike McCormack:                                                                                                                           178

Ein Blick auf Guyana

Juan Ramon Durán und Ludgera Klemp:                                                                                       188

Honduras nach dem Wirbelsturm:
zwischen Autoritarismus und Bürgerbeteiligung

Albrecht Koschützke:                                                                                                                      200

Oh, wie schön wird Panama

Dorothea Melcher:                                                                                                                          212

Venezuela: eine friedliche Revolution?

Autorinnen und Autoren dieses Bandes                                                                                              224

 

Editorial

Migrationen

Der Gedanke an Migration ist im Bewußtsein der Öffentlichkeit mit Bildern verbunden. Eine Serie von Bildern lieferte vor einigen Jahren der Fernsehfilm »Der Marsch«: Flüchtlinge aus den Dürregebieten Afrikas sammeln sich zu einer Armutskarawane und ziehen nach Norden. Von Vertretern der Medien und überforderter internationaler Hilfsorganisationen begleitet gelangen sie nach Marokko, wo sie von den Klippen aus sehnsüchtig nach Europa starren, während in Südspanien Truppen zur Absperrung potentieller Landungshäfen zusammengezogen werden. Der Film hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck: Er kritisiert die Abschottung der »Festung Europa«, zugleich aber bedient er diffuse Ängste vor der »Überflutung« durch Armutsflüchtlinge. Ähnlich ambivalente Boschaften enthalten die Bilder der boat people auf verschiedenen Weltmeeren, die für vorübergehende Zeit die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen: Haitianer vor den Küsten Floridas, Vietnamesen im Hafen von Singapur oder Albaner, die ihr Leben bei dem Versuch riskieren, an der italienischen Küstenwache vorbei in Bari oder Brindisi einzulaufen. Und schließlich kennen wir alle die Bilder der mexikanischen wetbacks, die bei ihren hartnäckigen Versuchen, die Grenze zu den USA zu überqueren, von den US-amerikanischen Grenzwächtern mit Nachtsichtgeräten gehetzt werden. Alle diese Bilder vermitteln den Eindruck, als handele es sich bei diesen Fluchtversuchen um ein neues massenhaftes Phänomen, das auch als politisches Argument Verwendung findet: Wenn wir nicht dazu beitragen, die Lebensbedingungen in den Ländern des Südens zu verbessern, dann werden sie eben zu uns kommen, die Flüchtlinge vor Umweltkatastrophen und Verarmung. Die Regierungen der Zielländer haben allerdings bisher für diese scheinbar neue Herausforderung nur alte Antworten gefunden: staatliche Regulierung und Einschränkung der Mobilität, Aufrüstung an den Grenzen, gewaltsame Abschiebung.

Bei näherer Betrachtung allerdings ist das Phänomen massenhafter Bevölkerungsbewegungen gar nicht so neu. Die Geschichte Lateinamerikas ist, selbst wenn man die Wanderungen der vorkolonialen Zeit außer Acht läßt, seit der Entdeckung eine Geschichte der Migrationen. Die spanischen und portugiesischen Eroberer verließen ihre Heimat, um in einer unbekannten Welt zu Ruhm und Reichtum zu gelangen, ihre Nachfolger, die von der »Halbinsel« entsandten Kolonialfunktionäre, waren ebenfalls Auswanderer auf Zeit - saisonale Migranten gewissermaßen. Zugleich verursachte die Eroberung und Kolonialisierung der Neuen Welt enorme Wanderungsbewegungen in der einheimischen Bevölkerung. Die Bewohner ganzer Regionen wurden zur Zwangsarbeit in andere Teile des Kolonialreiches verschleppt. Ländliche Dorfgemeinschaften wurden aus fruchtbaren Tälern auf karge Hänge und entlegene Hochebenen abgedrängt oder flohen aus Furcht vor Ausbeutung und Gewalt in unwegsame Dschungelgebiete. Einzelne Angehörige der indigenen Völker, die ihren Dorfgemeinschaften oder Familienverbänden entfremdet worden waren, zogen in die neu entstehenden kolonialen Städte, um als Handwerker oder Tagelöhner zu überleben. Zudem importierten die Kolonialherren zusätzliche Arbeitskräfte für ihre Plantagen. Insbesondere in der Karibik sowie im Norden und Osten des Subkontinents, aber auch in Mittelamerika und den Andenländern bildeten afrikanische Sklaven einen immer größer werdenden Anteil an der kolonialen Bevölkerung. Die middle passage des atlantischen Dreieckshandels war auch eine gigantische Zwangsmigration.

Auch beim Versuch der Etablierung von Nationalstaaten nach der politischen Unabhängigkeit spielte Migration eine wichtige Rolle. In dem Wunsch, die Landwirtschaft zu intensivieren, eine Industrie aufzubauen und ihre Gesellschaften kulturell, sozial und ethnisch dem Muster Europas anzugleichen, bemühten sich die Regierenden um Zuwanderer aus der alten Welt. Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts (im Zusammenhang mit der Industrialisierung und großen Bevölkerungsbewegungen innerhalb Europas) die große Auswanderung einsetzte, in deren Verlauf bis 1920 fast 47 Millionen Menschen den Atlantik überquerten, wählten immerhin 11 Millionen von ihnen Südamerika zum Ziel ihrer Migration. Die Auswanderer brachten Segeltechniken und Fischernetze sowie andere Fertigkeiten und Werkzeuge, Gewerkschaften und Vereine, pasta, Polka und Akkordeon mit und prägten so die gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen, die Sprache und Kultur ihrer neuen Heimat. Freiwillige oder erzwungene Mobilität stellt also in der Geschichte Lateinamerikas nicht die Ausnahme, sondern die Normalität dar.

Die Landflucht, die sich seit den fünfziger Jahren nach und nach in fast allen lateinamerikanischen Ländern beobachten ließ, war ebenfalls ein Aspekt dieser Mobilität. Im Verlaufe dieses Prozesses, der binnen weniger Jahrzehnte zur Explosion der Metropolen des Subkontinents führte, entwickelten die Migranten (sowie ihre Familien und Herkunftsgemeinden) eine Reihe von sozialen Mechanismen, die auch im Zusammenhang der grenzüberschreitenden Wanderungen der Gegenwart eine wichtige Rolle spielen: die Pflege der Beziehungen zwischen Migranten und Zurückgebliebenen, die Anpassung an urbane Lebensformen bei gleichzeitiger Beharrung auf lokalen »Traditionen«. Eine literarische Verarbeitung finden diese neuen sozialen Konstellationen bei dem peruanischen Autor José Maria Arguedas. In seinem Roman »Yawar Fiesta« beschreibt er die Vorbereitungen für die Ausrichtung eines traditionellen Dorffestes in den Anden, dessen Höhepunkt in einem blutigen Kampf zwischen einem Stier und einem Kondor besteht - Vermischung und zugleich Konfrontation von kolonialen und vorspanischen Elementen. Vom lokalen Großgrundbesitzer als rückständig gebrandmarkt, wird die Veranstaltung durch die nach Lima abgewanderten Angehörigen der Dorfgemeinde ermöglicht, die ihre in der Hauptstadt erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen, um die nötigen Geldmittel zusammenzubringen.

Die gegenwärtigen Wanderungsbewegungen sowohl innerhalb Lateinamerikas als auch transkontinental (in die USA, nach Europa sowie in den pazifischen Raum, insbesondere nach Japan) können also auf zwei Vorgeschichten zurückblicken: einmal auf Landflucht und Verstädterung sowie saisonale Wanderungen seit Mitte dieses Jahrhunderts, zum anderen auf die großen Auswanderungsbewegungen aus Europa zwischen 1850 und 1930. Diese historische Verknüpfung macht sich in doppelter Weise bemerkbar. Zum einen ergeben sich daraus reale Traditionen, indem bei Binnenmigration erworbene Erfahrungen für die Wanderung über Grenzen hinweg nutzbar gemacht werden. Die Netzwerke, einmal geknüpft, lassen sich über den ganzen Subkontinent, bis in die USA oder sogar nach Europa ausdehnen. Auch Kontakte zu den europäischen Herkunftsländern oder gar -gemeinden der eigenen Vorfahren können heutige Migrationsentscheidungen beeinflussen, insbesondere, wenn die einstigen Auswanderungs- und heutigen Einwanderungsländer Europas solche Entscheidungen begünstigen. So haben in den frühen neunziger Jahren nach Auskünften der italienischen Botschaft in Buenos Aires pro Jahr bis zu 30 000 argentinische Nachkommen italienischer Auswanderer einen Antrag auf einen italienischen Reisepaß gestellt. Wie viele von diesen danach tatsächlich nach Italien gereist oder gar dauerhaft übergesiedelt sind, kann allerdings nicht festgestellt werden, da sie ja Italien als Italiener betraten und daher in keiner Einwanderungsstatistik festgehalten sind.

Daß zwischen den gegenwärtigen transnationalen Wanderungen und früheren Formen der Migration Ähnlichkeiten und Kontinuitäten bestehen, schlägt sich auch in der Forschung über diese Phänomene nieder. Während früher das Klischee von den »chaotischen« Auswandererströmen des 19. Jahrhunderts vorherrschend war, die nur durch die grenzenlose Absorptionskraft des nordamerikanischen Arbeitsmarktes sowie die soziale und historische Besonderheit des melting pot in die US-amerikanische Gesellschaft integriert werden konnten, haben sich inzwischen mit zunehmender Kenntnis der historischen Prozesse auch die Einschätzungen differenziert. Dazu gehörte beispielsweise auch die Vorstellung von der einmaligen, lebenslangen und unwiderruflichen Auswanderungsentscheidung, die nur von wenigen »gescheiterten« Rückkehrern nicht durchgehalten worden sei. Heute ist bekannt, daß die Auswanderung in die USA und die lateinamerikanischen Länder staatlichen Einflüssen insbesondere der Empfängerländer unterlag (durch Anwerbebüros, subventionierte Schiffspassagen etc.), daß die Migrantinnen und Migranten in der Regel sehr gut darüber informiert waren, was sie am Ende ihrer Reise erwartete, und daß eine beträchtliche Anzahl von ihnen nach einigen Jahren in die alte Heimat zurückkehrte, nicht weil sie in der Anpassungsleistung an die neue Gesellschaft versagt hätten, sondern weil genau das ihren Plänen entsprach und sie sich nun in die Lage versetzt sahen, das zu verwirklichen, was das urspüngliche Ziel ihrer Auswanderung gewesen war, beispielsweise ein Stück Land oder ein Geschäft zu erwerben. Selbst regelmäßige transatlantische Saisonwanderung ist keine an heutige Verkehrsmittel gebundene Erscheinung: die süditalienischen »Zugvögel«, auch golondrinas genannt, verbrachten jedes Jahr einige Monate in Argentinien, um in der Getreideernte zu arbeiten, und kehrten rechtzeitig im europäischen Frühjahr zur Bestellung ihrer eigenen Parzellen zurück.

Neben Arbeitssuche spielten Flucht und Vertreibung in der Geschichte der Migration nach und aus Lateinamerika immer eine wichtige Rolle. Der Vorkämpfer der italienischen Einheit, Garibaldi, fand in Lateinamerika ebenso eine Zuflucht wie Teilnehmer der gescheiterten Revolution von 1848. In diesem Jahrhundert waren es vor allem Emigranten auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus, die in Mexiko und anderen Ländern Aufnahme fanden. Ihnen folgten nach 1945 ihre einstigen Verfolger, die sich nun durch die Auswanderung davor bewahren konnten, für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Repressive Regimes und Militärputsche in verschiedenen Teilen des Subkontinents führten auch zu Wanderungsbewegungen infolge von politischer Verfolgung: aus Guatemala, Nicaragua und Brasilien, aus Chile, Argentinien und Uruguay, aus Bolivien, Paraguay und El Salvador mußten zu unterschiedlichen Zeiten die Angehörigen politischer Organisationen oder bestimmter Berufsgruppen flüchten, um sich vor den Terrorregimes ihrer Länder in Sicherheit zu bringen. Manche dieser Flüchtlinge fanden in Nachbarländern dauerhaften oder zumindest vorübergehenden Schutz, andere wurden nach Europa oder Nordamerika ins Exil getrieben. Dazu kommen die Opfer gewaltsamer interner Konflikte, die in Mittelamerika, in Kolumbien oder in Peru zwischen die Fronten von bewaffneter Aufstandsbewegung und staatlicher Repression gerieten, aus ihren Wohnorten vertrieben wurden und in den Elendsvierteln der Großstädte oder in Flüchtlingslagern jenseits der Landesgrenzen eine notdürftige Zuflucht fanden.

Ungeachtet all dieser Kontinuitäten weisen die Migrationsströme in und aus Lateinamerika aber auch eine Reihe von neuen Eigenarten auf, die eine fortgesetzte Beschäftigung mit diesem Phänomen nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig machen. Mit den gängigen Schlagworten von Globalisierung, Weltarbeitsmarkt oder Fortschritten in der Kommunikationstechnologie ist hier allerdings nicht viel auszurichten. Wie wir gesehen haben, waren auch schwerfälligere Verkehrs- und Kommunikationsmittel sowie Industrien mit einem geringen Grad an transnationaler Vernetzung kein Hinderungsgrund für die Entstehung von massenhaften und weltweiten Arbeitsmigrationsströmen. Es sind vielmehr die konkreten Existenzbedingungen von Auswanderern und Zurückgebliebenen, die sich verändert und damit auch zu veränderten Strategien und Verhaltensweisen seitens der Migrantinnen und Migranten geführt haben.

Zunächst einmal lassen sich die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in den Zielländern nicht mehr mit denen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vergleichen. Dies gilt vor allem für transozeanische Migranten, aber auch für viele Mexikaner und andere hispanics in den USA. Sie finden nur noch in Ausnahmefällen reguläre und dauerhafte Arbeitsplätze, die über Steuern, gewerkschaftliche Organisation und andere soziale Mechanismen einen »formellen« Einstieg in die Aufnahmegesellschaft gestatten. Statt dessen müssen sie im »informellen Sektor« unterkommen bzw. sich ihren Arbeitsplatz selber schaffen. In diesem neuen Arbeitsmarkt stehen insbesondere persönliche Dienstleistungen im Zentrum: in Restaurants, in Liefer- und Bringdiensten, in der Reinigung von Büros und Läden, in der häuslichen und institutionellen Pflege von Kindern und alten Menschen oder bei der Hilfe im Haushalt, die Anteile all der genannten Tätigkeiten miteinander kombiniert. Die veränderten Arbeitsmarktanforderungen führen dazu, daß sich die Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung im Vergleich zu früher wandelt, was sich besonders an einem steigenden Anteil von allein migrierenden Frauen bemerkbar macht.

Die Tendenz zur Informalisierung wird begleitet und verstärkt durch eine staatliche Politik der Einwanderungsbeschränkung sowohl in den USA wie auch in Europa, die den Status der »illegalen« Immigranten geschaffen hat. Die Situation permanenter Rechtlosigkeit und Gefährdung führt nicht nur zu ganz besonderer Abhängigkeit bei der Arbeit und Arbeitssuche, sondern wirkt sich auch auf die Formen der sozialen Organisation und der Netzwerkbildung aus.

Qualitativ neue Phänomene ergeben sich auch aus der Überschreitung quantitativer oder generationaler Grenzen. In dem Maße, wie immer mehr Familien oder Gemeinden an mehreren Orten verankert sind, wo einige ihrer Angehörigen wohnen, und in dem für die Angehörigen der nachwachsenden Generationen die Möglichkeit der (dauerhaften oder vorübergehenden) Auswanderung als selbstverständlicher Bestandteil zur Lebensplanung gehört, tritt immer deutlicher zutage, daß Migration weder auf einmaligen noch auf unilinearen (in push- und pull-Faktoren aufspaltbaren) Prozessen beruht. Vielmehr entsteht aus dem Austausch und der gegenseitigen Abhängigkeit von Wandernden und Zurückbleibenden eine sich selbst verstärkende Tendenz, in der Begleiterscheinungen und Folgen der Migration selbst neue Wanderungsbewegungen hervorrufen.

Soziale Verhaltensweisen und -erwartungen wie Gruppensolidarität und Gegenseitigkeit, die im Zuge postmoderner Individualisierung bereits für obsolet erklärt worden waren, erweisen sich in diesem Zusammenhang nicht nur als lebensfähig, sondern auch als überlebensnotwendig und entfalten unter veränderten Bedingungen neue Qualitäten.

Das zentrale Problem jeder Migrationsforschung, egal ob sie nun vergangene oder gegenwärtige Wanderungsbewegungen betrachtet, besteht darin, politische und ökonomische Prozesse auf der Makroebene und individuelle Entscheidungen auf der Mikroebene in einen überzeugenden Zusammenhang zu bringen. Theoretische Ansätze, die sich vor allem mit weltwirtschaftlichen Strukturen oder dem ökonomischen Gefälle zwischen »entsendenden« und »aufnehmenden« Gesellschaften befassen, können nicht befriedigend erklären, weshalb manche verarmten Regionen Migranten entsenden, andere jedoch nicht, oder weshalb Migrationsprozesse mit einem wirtschaftlichen Aufschwung im Herkunftsland einhergehen können. Auch die Veränderungen, die eine kontinuierliche Migration an den beiden Enden der Wanderungsbewegung auf lokaler, regionaler und sogar nationaler Ebene hervorruft, können von solchen Ansätzen nur begrenzt erfaßt werden.

Die Interpretationsversuche, die die individuelle Migrationsentscheidung in den Mittelpunkt stellten, krankten lange Zeit daran, daß der einzelne Auswanderer als isoliertes, ausschließlich rational kalkulierendes Individuum gedacht wurde, das push- und pull-Faktoren, Vor- und Nachteile der Migration unter rein quantitativen Gesichtspunkten abschätzte, um dann eine Entscheidung zu treffen. Die emotionalen »Kosten« der Trennung von der gewohnten Umgebung wurden dabei ebensowenig berücksichtigt wie die kollektiven Anteile an der Migrationsentscheidung.

Es bedarf also eines Ansatzes, der in der Lage ist, die verschiedenen Ebenen der Migrationsentscheidung und des Migrationsverlaufs zu integrieren. Er muß die Rahmenbedingungen berücksichtigen, die »globalen« ebenso wie die, die durch staatliche Maßnahmen zur Förderung, Verhinderung oder Regulierung von Migration gesetzt werden. Zugleich muß er die rationalen ebenso wie die emotionalen Erwägungen der migrierenden Individuen und Gruppen einbeziehen. Und schließlich muß er die dazwischen liegende Ebene erfassen, die Bedingungen, die sowohl die Situation einzelner Migranten bestimmen als auch von ihnen und ihrem Verhalten bestimmt werden. Zu den Untersuchungseinheiten auf mittlerer Ebene gehören zum einen die Arbeitsmarktsegmente, in denen sich Migranten bewegen, zum anderen die ethnischen communities und die Netzwerke, die durch Migration entstehen.

In dem Maße, wie Migration nicht mehr als einmaliger Akt, sondern als langandauernder kontinuierlicher Prozeß verstanden wurde, rückten auch die durch sie hervorgerufenen Veränderungen und sozialen Phänomene in den Gesichtskreis der Forschung. Auf der Makroebene sind dies die links oder bridges zwischen der entsendenden und der Aufnahmegesellschaft. Sie bestehen in Geldströmen (Rücküberweisungen der Migranten, Investitionen etc.) ebenso wie in neuen Verkehrswegen und Kommunikationsmitteln, aber auch zwischenstaatliche Verträge und Kooperationen gehören dazu. Zusammen mit den wandernden Menschen selbst bilden sie kontinentale oder transozeanische »Migrationssysteme«.

Auf der mittleren Ebene werden diese Verbindungen von den vielfältigen Kontakten zwischen ausgewanderten und zurückgebliebenen Mitgliedern von Familien oder Gemeinden gebildet, die von der Forschung unter dem Stichwort der »Netzwerke« zusammengefaßt werden. Diese Systeme gegenseitiger Hilfeleistung auf der Grundlage von verwandtschaftlicher oder nachbarschaftlicher Verbundenheit etablieren nicht nur soziale Netze zwischen Individuen bzw. Familien, sondern konstituieren auch eine ganz spezifische Art von Räumen und Entfernungen. Für Migranten ebenso wie für Zurückgebliebene ordnet sich das soziale Universum in der Form einer Gemeinschaft, die auf mehrere, weit voneinander entfernte Orte verteilt ist. Auch die individuelle Biographie ist plurilokal: die Einzelperson ist an mehreren Orten ökonomisch, sozial und kulturell verankert, kann im Laufe ihres Lebens mehrere Umsiedlungen beschließen und solche Entscheidungen auch wieder zurücknehmen. Eine solche Interpretation ist meilenweit von der Einwandererforschung der fünfziger und sechziger Jahre entfernt, die die lebensgeschichtlichen Konsequenzen von Migration nur in der Begrifflichkeit von Entwurzelung und Assimilation erfassen konnte.

Der vorliegende Band versucht, diesen Fragen nachzugehen und dabei die Position Lateinamerikas in den heutigen weltweiten Wanderungsbewegungen zu bestimmen. Ninna Nyberg Sørensen hat die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Strategien der Inbesitznahme von Räumen von dominikanischen Migrantinnen und Migranten in New York und Madrid untersucht und verglichen. Dabei erweist sich der Ansatz der »Transnationalisierung« von Biographien und sozialen Beziehungen als ebenso fruchtbar wie der genaue Blick auf die konkreten Verhältnisse in den Zielländern sowie auf die inneren Differenzierungen der migrierenden communities.

Das Konzept der »transnationalen sozialen Räume« entwickelt und vertieft Ludger Pries am Beispiel der Migrationsbeziehungen zwischen der mexikanischen Mixteca und dem Großraum New York.

Nach wie vor ist es der Traum fast aller Auswanderer aus Lateinamerika, in den USA ein neues Leben anzufangen. Thomas Winschuh geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit die Veränderungen des nordamerikanischen Arbeitsmarktes die Attraktivität der USA als Zielland beeinflußt haben.

Zu den Beziehungen, die die neuen transnationalen Räume etablieren, gehören an vorderster Stelle die Geldsendungen, mit denen die Migranten ihre zurückgebliebenen Angehörigen unterstützen. Nach welch komplexen sozialen Mustern dies geschieht und welche volkswirtschaftliche Bedeutung diese Überweisungen annehmen können, zeigt Pedro Monreal am Beispiel Kubas.

Wie schon der erste Artikel des Analyseteils deutlich macht, fassen lateinamerikanische Auswanderer auch Europa zunehmend als Ziel ins Auge. Während sich in den vergangenen Jahrzehnten die lateinamerikanische community in Deutschland vorwiegend als »Exil« verstand und aus politischen Flüchtlingen zusammensetzte, nimmt inzwischen die Zahl der legalen, vor allem aber der illegalen Arbeitsmigrantinnen und –migranten zu. Elke Schäfter und Susanne Schulz lassen einige lateinamerikanische Frauen zu Wort kommen, die in Berlin als Hausangestellte arbeiten.

Die Not der desplazados, der Menschen, die durch Gewalt und Bürgerkrieg aus ihrer Heimat vertrieben werden, schildert Nora Segura am Beispiel der internen Flüchtlinge in Kolumbien.

Schließlich nimmt Ruth Stanley einen wenig bekannten Aspekt historischer Migrationen auf: den vergeblichen Versuch einiger lateinamerikanischer Länder (vor allem Argentinien und Brasilien), nach 1945 mit Hilfe eingewanderter deutscher Experten an die Spitze der internationalen Technologie im Flugzeug- und Raketenbau vorzustoßen.

Wie immer haben die Herausgeberinnen und Herausgeber allen Autorinnen und Autoren zu danken sowie all denen, die durch Ideen, Anregungen und Kritik zum Zustandekommen dieses Bandes beigetragen haben.

Eleonore von Oertzen