Jahrbuch Lateinamerika
Analysen und Berichte 25

 

 

 

 

 

 

Beharren auf Demokratie

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von

Karin Gabbert, Wolfgang Gabbert, Bert Hoffmann, Albrecht Koschützke,
Klaus Meschkat, Clarita Müller-Plantenberg, Urs Müller-Plantenberg,
Eleonore von Oertzen und Juliana Ströbele-Gregor

 

 

 

 

 

 

 

 

WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT


 

Inhalt                                                                                      5

          

Editorial                                                                                    7

Beharren auf Demokratie

 

I Analysen                                                                             11

 

Urs Müller-Plantenberg:                                                               13

Engagement und Ausdauer. Kritische deutsche
Sozialwissenschaft und Lateinamerika

 

Elmar Altvater:                                                                         35

Demokratische Fragen in Zeiten informeller Politik

 

Alvaro Camacho Guizado:                                                           51

Demokratie, sozialer Ausschluss

und die Konstruktion von Öffentlichkeit in Kolumbien

 

Haroldo Dilla Alfonso:                                                                66

Wirtschaftsreformen und Regierbarkeit.

Anmerkungen zum kubanischen Übergang

 

Paul Singer:                                                                               75

Solidarische Ökonomie in Brasilien heute:
eine vorläufige Bilanz

 

Jorge Rojas Hernández:                                                                97

Marktpopulismus und bürgerliche Illusionen.

Politik und Gesellschaft im Chile des 21. Jahrhunderts

 

Miriam Lang:                                                                          116

Alltagsdemokratie und Alltagsgewalt.

Neue Herausforderungen für Diskurs und Praxis

der mexikanischen Frauenbewegung

 

 

 

Gerhard Dilger:                                                                        136

Solidarische Globalisierung.

Das Weltsozialforum von Porto Alegre

 

Resúmenes                                                                          145

 

Summaries                                                                           148

 

II Berichte                                                                           151

 

Yesko Quiroga:                                                                        153

Bolivien: Aufstand im Modell-Land

 

Javier Ponce:                                                                            169

Ein Land als Versuchskaninchen Dollarisierung in Ecuador

 

Clarita Müller-Plantenberg und Theo Rathgeber:                              178

„Plan Colombia“. Militarisierung der Drogenbekämpfung

statt friedlicher Konfliktlösung

 

Anne Huffschmid:                                                                     188

Von Masken und Märkten Das „post-demokratische“ Mexiko

 

Ulrich Goedeking:                                                                     198

Peru: Die schwere Erbschaft Fujimoris

 

Steve Ellner:                                                                            208

Chávez’ Venezuela

 

 

Autorinnen und Autoren dieses Bandes                                  220

 

 

 

 

Editorial: Beharren auf Demokratie

 

Für manche ist der Fall erledigt: Demokratie in Lateinamerika herrscht, seit in den achtziger Jahren die Militärdiktaturen von der politischen Bühne abtreten mussten und gewählte zivile Regierungen die Amtsgeschäfte übernahmen. Die Strafverfolgung Pinochets erscheint da als ein Nachhall aus ferner Zeit, und Castros Kuba bleibt die anachronistisch anmutende Ausnahme. Auf die Transitionsforschung, die die Übergänge von den Diktaturen thematisierte, folgte schnell die Konsolidierungsforschung, deren zentrales Anliegen die Festigung der erreichten politischen Verhältnisse war, nicht die Ausweitung ihres demokratischen Gehalts.

Davon ausgehend, dass für eine kritische Sozialwissenschaft Demokratisierungsprozesse über die Einrichtung der formellen Institutionen und Verfahren einer repräsentativen Demokratie im staatlichen Rahmen hinausweisen und Demokratie in alle gesellschaftlichen Bereiche tragen müssen, hat Klaus Meschkat vor einigen Jahren die Ergebnisse eines von ihm geleiteten Forschungsprojekts resümiert: „Der Übergang zur Demokratie, so wie er in einer Reihe lateinamerikanischer Länder seit dem Beginn der achtziger Jahre tatsächlich stattgefunden hat, ist um den Preis eines weitgehenden Verzichts auf Demokratisierung zustande gekommen. Deshalb konnte sich die Hoffnung, dass die einmal erreichte Einsetzung einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung weitergehende Demokratisierungsprozesse in die Wege leiten könnte, dass also der Übergang zur Demokratie der erste Schritt zu einer 'erweiterten Demokratie' sei, nicht erfüllen.“ (Meschkat 1995, S. 18).

Meschkats Einsicht hat sich in den Analysen vieler Beiträge auch des Jahrbuchs bestätigt: In der unmittelbaren postdiktatorialen Phase führte die Wiedereinführung von Wahlen oft zunächst zu einer Art „konditionierter Demokratie“. Die neuen Dimensionen des Begriffs des „Politischen“, die der antidiktatoriale Widerstand formuliert hatte, wurden mit der Wiederherstellung des Politikmonopols der traditionellen Parteien wieder auf die früheren Begriffe zurückgestutzt. Von den Menschenrechtsgruppen proklamierte Werte wie „Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“ wurden „realpolitisch“ reduziert auf Wahrheitskommissionen mit bescheidenen Konsequenzen. Soziale Rechte wurden mit Hinweis auf die begrenzten Spielräume während des „Übergangs“ zur Demokratie abgewehrt. D In der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden radikale Reformmodelle nicht einmal mehr gedacht, geschweige denn praktiziert. Die als „Kontinuität“ gepriesene Fortschreibung der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Diktaturen durch die neuen demokratischen Regierungen verdeutlichte, wie sehr der „Markt in den Köpfen“ (so ein Jahrbuch-Titel) sich auch bei jenen festgesetzt hatte, die vor und während der Diktaturen ganz entgegengesetzte Vorstellungen vertreten hatten.

Das „Jahrbuch Lateinamerika Analysen und Berichte“, das mit diesem Band im 25. Jahr erscheint, ist aus der Solidarität mit den Kämpfen gegen die Diktaturen entstanden und hat die Übergänge zur Demokratie in Lateinamerika unterstützt und kritisch begleitet. Es hat aber auch immer darauf bestanden, dass Demokratie sehr viel mehr umfasst als das, was die real existierenden Demokratien des Kontinents heute verkörpern. Wo Demokratie auf  substantieller, auf dem Gleichheitspostulat beruhender Staatsbürgerschaft fußt, ist sie nicht ohne eine Überwindung der extremen sozialen Ungleichheiten und der Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten zu realisieren, genauso wenig wie ohne eine reale Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen oder die gleichwertige Anerkennung unterschiedlicher ethnischer Gemeinschaften und sozio-kultureller Lebenspraxen. Und Demokratie umfasst nicht zuletzt auch den Anspruch, dass der politische Souverän tatsächlich die Entscheidungskompetenz über zentrale gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse hat und diese ihm nicht von etablierten Machtgruppen oder vermeintlichen („globalisierten“) Sachzwängen enteignet wird.

Klaus Meschkat gehört zu den Gründern dieses Jahrbuchs. Im letzten Jahr hat er seinen 65. Geburtstag gefeiert und ist - wohl ohne, dass einem dabei das Wort „Ruhestand“ in den Sinn kommt - aus der bezahlten Arbeit an der Universität Hannover ausgeschieden. Im Jahrbuch haben die Herausgeber und Herausgeberinnen ihn für den diesjährigen Band beurlaubt – nicht, um hinter seinem Rücken eine Festschrift zusammenzustellen, an der ihm kaum gelegen wäre, sondern um mit dem „Beharren auf Demokratie“ ein Thema aufzugreifen, das Klaus Meschkats beruflichen und politischen Lebensweg maßgeblich geprägt hat, von den frühen sechziger Jahren, als er als Vorsitzender des Verbands Deutscher Studentenschaften für die Ausweitung des realen Zugangs zur Universität für alle sozialen Klassen eintrat (vgl. Meschkat 1960), bis zu seinem Engagement im Kuba der späten neunziger Jahre. Dabei werden in diesem Band sowohl langjährige lateinamerikanische Weggefährten zu Wort kommen als auch junge Autoren und Autorinnen, die ihn nur aus ihren Diskussionen und Bücherregalen kennen.

Den Beginn macht Urs Müller-Plantenberg mit einem Aufsatz über die kritische deutsche Sozialwissenschaft zu Lateinamerika. In notwendig subjektiver Sicht lässt er diese ihren Anfang in den Seminaren Klaus Meschkats am Osteuropa-Institut der Freien Universität 1965 nehmen, und en passant ist dieser Text natürlich auch ein Rückblick auf ein Vierteljahrhundert dieses Jahrbuchs.

Elmar Altvater fragt in seinem Beitrag nach den Bedingungen der Demokratie in Zeiten der Globalisierung der Ökonomie und der Informalisierung der Politik. Denn die räumlichen Distanzen und zeitlichen Spielräume, die für demokratische Verfahren essentiell sind, schwinden zusehends. Die Macht von Institutionen informalisierter Politik wächst, die jenseits von Verfassungen agieren und die sich genauso demokratischer Kontrolle entziehen wie die über mobiles Kapital verfügenden Geldvermögensbesitzer.

Der kolumbianische Politikwissenschaftler Alvaro Camacho geht in der Folge der Frage nach, inwieweit die kolumbianische Gesellschaft sich als moderne Demokratie konsolidieren kann - und kommt dabei zu einem eher pessimistischen Ergebnis. Soziale Ungleichheit, Korruption, Klientelismus, Gewalt und die Folgen der Drogenökonomie wirken in wechselseitiger Verstärkung als Mechanismen sozialen Ausschlusses, die der Konstruktion von demokratischer Öffentlichkeit massiv entgegenstehen.

Der kubanische Sozialwissenschaftler Haroldo Dilla thematisiert die Frage der Demokratie für die Transformationen, die die sozialistische Insel seit Anfang der 90er Jahre durchläuft. Die Krise, aber auch die durchgeführten Reformen stellen dabei die Staatsführung vor die Herausforderung, die Regierbarkeit in neuen Formen zu gewährleisten. Dilla betont dabei die aufstrebenden entstehenden technokratisch-unternehmerischen Sektoren, die zwar Teil des Staats- und Parteiapparats sind, gleichzeitig aber für die herrschende politische Klasse zur gewichtigen Konkurrenz im Bereich der Ideologie-Produktion geworden sind.

Auch in dem folgenden Aufsatz umfasst das „Beharren auf Demokratie“ die Ebene der Wirtschaft. Paul Singer zieht eine vorläufige Bilanz der „solidarischen Ökonomie“ in Brasilien, die in Folge der Wirtschaftskrise einen starken Aufschwung erlebt. So führen Arbeiter bankrott gegangene Unternehmen in eigener Regie weiter, und die Landlosenbewegung MST etabliert auf dem besetzten Land ehemaliger Großgrundbesitzer neue Formen von Agrargenossenschaften.

Im Anschluss analysiert Jorge Rojas die politischen und sozialen Transformationen Chiles und diagnostiziert, dass die Krise der Repräsentation und der Parteien das Phänomen des „Marktpopulismus“ hervorgebracht hat. Denn die gezielte Schwächung des Staates beraubt diesen der ökonomischen Ressourcen, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Die daraus resultierende Politikverdrossenheit wird nun von ultrarechten populistischen Strömungen ausgenutzt, deren Demagogie die Überwindung von Armut und Arbeitslosigkeit verspricht.

Der Beitrag von Miriam Lang trägt das „Beharren auf Demokratie“ in den Alltag und die Geschlechterbeziehungen. Am Beispiel der feministischen Debatte über die Alltagsgewalt gegen Frauen in Mexiko arbeitet sie heraus, wie die feministische Bewegung nicht nur die traditionellen Formen des politischen Prozesses durch neue Allianzen aufgebrochen hat, sondern wie sie darüber hinaus auch Demokratiekonzepte entwickelt hat, die mit denen anderer sozialer Kräfte konkurrieren. Gleichzeitig wirkt die gegenwärtige politische Modernisierung unter neoliberalem Vorzeichen auch auf die feministische Bewegung selbst zurück und stellt sie vor weitreichende Herausforderungen.

Zum Abschluss des Analyse-Teils steht ein Bericht von Gerhard Dilger über das Weltsozialforum von Porto Alegre im Januar 2001, auf dem ein breites Spektrum sozialer Gruppen aus aller Welt Position gegen den Neoliberalismus bezog und sich in vielen Diskussionen auf die Suche nach Wegen einer „solidarischen Globalisierung“ machten. Der Ort war dabei nicht zufällig gewählt, denn die „partizipative Haushaltsplanung“, die die brasilianische Arbeiterpartei (PT) in Porto Alegre eingeführt hat, kann als Besipiel dafür gelten, dass es sehr wohl demokratische Alternativen zu den herrschenden Formen der Politik gibt.

An den Analyse-Teil schließen wie in jedem Jahr Länderberichte an, in diesem Band zu Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela. Die aktuellen statistischen Basisdaten zu diesen wie zu allen anderen großen und mittelgroßen Ländern Lateinamerikas und der Karibik finden sich auf der Homepage des Jahrbuchs unter www.jahrbuch-lateinamerika.de

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Literatur

Meschkat, Klaus (1960): Was ist dem Staat der Nachwuchs wert?, Schriften des Verbandes Deutscher Studentenschaften, Heft 2, Bonn

Meschkat, Klaus (1995): Einleitung, in: Bultmann, Ingo, Hellmann, Michaela, Meschkat, Klaus und Rojas, Jorge (Hrsg.): Demokratie ohne soziale Bewegung? Gewerkschaften, Stadtteil- und Frauenbewegungen in Chile und Mexiko, Bad Honnef.