Jahrbuch Lateinamerika
Analysen und Berichte 27
Unsere amerikanischen
Freunde
Herausgegeben von
Karin Gabbert, Wolfgang Gabbert,
Ulrich Goedeking, Bert Hoffmann,
Albrecht Koschützke, Urs Müller-Plantenberg, Eleonore
von Oertzen
und Juliana Ströbele-Gregor
WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
Inhalt 5
Editorial 7
Unsere
amerikanischen Freunde
Fred Rosen: 21
NACLA. Ein Rückblick auf 35 Jahre Lateinamerika-Solidarität
in den USA
Urs Müller-Plantenberg: 57
Was die USA für Lateinamerika bedeuten
Elmar Altvater: 80
Weltmacht und Weltmarkt beim Kampf um das Öl
Ulrich Goedeking: 95
ALCA und der Preis des Dazugehörens. Peru und
Bolivien
zwischen US-Interessen und der Hoffnung auf neue Exportmärkte
Ingrid Vaicius und Adam Isacson: 110
Vom „Drogenkrieg“ zum „Krieg gegen den Terror“.
Die militärische Einmischung der USA in Kolumbien erreicht eine neue Stufe
Rafael Alarcón: 129
Von „Besuchern“ zu Siedlern - mexikanische Migranten in Kalifornien
Silke Hensel: 146
Kollektive Identität und Staatsbürgerschaft: Die
Geschichte von Inklusion und
Exklusion der Mexican-Americans und
Puertoricaner in den USA
Jürgen Weller: 166
Aspekte der Wirtschaftsbeziehungen Lateinamerikas und
der Karibik zu den USA
Resúmenes 179
Summaries 182
Länderanalysen 185
Roman Herzog und Alejandra Kern: 187
Argentinien: Alle sollten gehen … und blieben
Thomas Fatheuer: 197
Brasilien unter Lula:
Der Klassenkampf findet nun in der Regierung statt
Javier Ponce: 207
Ecuador: Völlig neue Gesichter und alte Probleme
Editorial: Unsere amerikanischen Freunde
Die USA sind nach der im Juni
2003 veröffentlichten Bevölkerungsschätzung des US Census Buerau
mit 38,8 Millionen Hispanics
(etwa 13,4 Prozent der US-Gesamtbevölkerung) das viertgrößte
„lateinamerikanische Land“. Bert Hoffmann, Mitherausgeber dieses Jahrbuchs,
verblüffte jüngst in einer Analyse über „Die Lateinamerikanisierung der USA“ (Brennpunkt Lateinamerika Nr. 12/2003)
mit dieser Feststellung. Aber natürlich ist nicht die Tatsache, dass die Latinos nunmehr
zur größten Minderheit in den USA noch vor den Schwarzen geworden sind, der
wichtigste Grund, warum das Jahrbuch Lateinamerika in seinem 28. Jahrgang
erstmals seine Analysen exklusiv den Beziehungen zwischen den USA und
Lateinamerika widmet. Es erstaunt vielmehr, dass dies nicht schon vor Jahren
geschehen ist. Doch mag eine gewisse Redundanz befürchtet worden sein, denn wer
über Lateinamerika redet oder schreibt, kann über die USA ohnehin nicht
schweigen. Das Jahrbuch Lateinamerika hat dies in den letzten Dekaden immer
wieder belegt.
Jetzt aber doch
über „Unsere amerikanischen Freunde“ auf dem Doppelkontinent einmal in einem
eigenen Band nachzudenken, entspringt unserem Eindruck, dass der US-Unilateralismus, der seit Jahrzehnten die entscheidende
Rahmenbedingung des gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen
Alltags in Lateinamerika ist, auch zunehmend für den Rest der Welt sichtbar und
als internationales politisches Problem erfahren wird.
Als wir das Thema
dieses Bandes festlegten – Monate bevor von einer Krise um den Irak, geschweige
denn von einem „Irak-Krieg“ die Rede war –, war die US-Politik noch eingebettet
in die mehr oder minder „bedingungslose Solidarität“ der Staatengemeinschaft im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus im Anschluss an die Terrorattacke
des 11. September. Die „Allianz gegen den Terror“ galt angesichts der zumindest
deklaratorischen Teilnahme von Staaten wie Russland und China geradezu als
Beleg dafür, dass die USA bereit und fähig waren, international abgestimmte,
multilaterale Koalitionen und nicht einseitige Rachefeldzüge zu einer
entscheidenden Säule ihrer Weltpolitik zu machen, deren Forum in besonderem
Maße die UNO war. Inzwischen haben das völkerrechtswidrige Vorgehen der von den
USA zusammengesammelten „Koalition der Willigen“ im
Irak und der darüber entstandene Konflikt in der UN-Familie und besonders mit
dem „alten Europa“ die internationale Politik der USA zu dem zentralen Thema werden lassen: Die politische Praxis von Regierungen
und der intellektuelle und akademische Diskurs in aller Welt entdecken in
seltener Einmütigkeit den hier sich exemplarisch artikulierenden Unilateralismus der „einzigen Supermacht“ plötzlich als
Wendepunkt für die Entwicklung der internationalen Beziehungen und der
Völkergemeinschaft. Symptomatisch hierfür ist unter anderem die für die
akademische Welt Europas beispiellose Initiative von Jürgen Habermas
und anderen, anlässlich der massiven Proteste in Europa gegen die US-Politik
über „europäische Identität“ und die praktischen politischen und
gesellschaftlichen Folgen kollektiv nachzudenken. Eine hastige und massenhafte
Produktion wissenschaftlicher Analysen in allen intellektuellen und
universitären Zirkeln konzentriert sich auf das Thema „Die USA und der Rest der
Welt“.
Dabei sind einsame
Entscheidungen der US-Regierungen ohne Rücksicht auf internationale
Kooperationsabsprachen oder Belange selbst „befreundeter“ Nationen auch vor der
Irak-Krise (und selbst außerhalb Lateinamerikas) nicht wirklich neu. Die USA
praktizierten immer Bismarcks Erkenntnis, dass Staaten keine Freunde, sondern
Interessen haben. Eine robuste America-first-Attitüde war der amerikanischen Außenpolitik
daher stets eigen. Skrupulösität und feinsinnige
Langzeitdiplomatie, empathische Analysen oder gar eine auf Konfliktvermeidung
ausgerichtete „Kultur der Bescheidenheit“ auf dem internationalen Parkett
wurden der US-Politik selten vorgeworfen.
Deshalb ist
ebenfalls nicht neu, dass das wie auch immer definierte US-amerikanische
Interesse natürlich zur alleinigen Richtschnur der US-Außenpolitik gemacht
wird, das es mit allen zulässigen und zur Not auch mit nicht von der
Völkergemeinschaft unbedingt als zulässig angesehenen Mitteln durchzusetzen
gilt. Diese in unterschiedlicher Deutlichkeit praktizierte oder auch nur je nach konjunktureller Empfindlichkeit
und Interessenlage der Partner wahrgenommene
Hemdsärmeligkeit des State Department ist kein konjunkturelles und
überraschendes Phänomen. Die aktuell einmal wieder populäre vulgär
psychologisierende Kritik an angeblich grundsätzlicher Selbstüberschätzung und
Überheblichkeit von God´s own country, in dem alles schöner, größer, besser und
einfach richtiger ist, was zwangsläufig zu sich auch außenpolitisch
artikulierendem Größenwahn führen müsse, beruft sich – wie jedes Vorurteil –
auf empirisch handfeste Anekdoten und beflügelt doch nur die Stammtischanalysen
der Fernsehtalkshows dank reaktionärer Stereotypen von „Volkscharakteren“ und
gesellschaftlichen Idiosynkrasien.
Da sind dann schon
die ein bisschen weniger spekulativen Unterstellungen illustrativer, dass
bigotter religiöser Fundamentalismus – zufällig im Moment auch noch
personalisierbar in einem „wiedergeborenen“ und bekehrten Alkoholiker an der
Staatsspitze – massenhafte gesellschaftliche Stimmungslagen erzeuge, die
Borniertheiten oder schlichte Unkenntnis „der Nordamerikaner(innen)“ von
komplexen (welt)politischen Zusammenhängen, geschickt
medial inszeniert, nutzen zur Durchsetzung eigener Ziele, die teilweise dann
auch außenpolitische Diskurse beeinflussen.
Denn neu ist
schließlich drittens nicht, dass die Außenpolitik der USA immer in Funktion
bestimmter innenpolitischer Interessenlagen formuliert wurde und das
internationale Agieren der Vereinigten Staaten (noch) stärker als in anderen
Ländern von konjunkturellen, teilweise tages- oder gar ausschließlich
wahlpolitischen Gemengelagen oder von den Interessen kleiner ökonomischer
Machtgruppen, gar einzelner Firmen oder Aktionärsgruppen abhängig war. Die
immer und immer wieder im Laufe der Geschichte nachweisbare direkte und kaum
verschleierte Instrumentalisierung staatlicher Außenpolitik und ihrer Mittel,
bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt, zum Beispiel zugunsten banaler
Geschäftsinteressen einzelner US-Unternehmen oder Branchen, ist – trotz aller
empirisch belegter persönlicher und institutioneller Verflechtungen – einem
nach historischen „Strukturen“ oder „nationalen Interessen“ suchenden
akademischen Analytiker fast peinlich. „It´s the profit, stupid!“ ist ein simplistisches Deutungsmuster vulgärer Flugblattpolemik und
unverbesserlicher Orthodoxie und darf nicht das Ergebnis wissenschaftlicher
Analyse sein.
Außerhalb
Lateinamerikas, vor allem in Europa, schienen seit dem Zweiten Weltkrieg in der
Epoche des Kalten Krieges andere außenpolitische „Groß-Motive“ und
Charakteristika der US-Präsenz in der Welt prägend. Die US-Außenpolitik
definierte sich schließlich hier nachgerade ausschließlich unter den Paradigmen
und Bedrohungsszenarien der bipolaren Ost-West-Konfrontation. Das besaß für die
europäischen Staaten und für die Wissenschaft hohe Plausibilität und
Legitimität – Demokratie versus Totalitarismus,
Freiheit (auch und gerade des Marktes) und Wohlstand versus
Zwang (auch und gerade in einer miserablen Planökonomie) und prekäre
Konsumchancen waren alternative Werte, die von der Wirklichkeit nicht all zu
weit entfernt waren.
Dieses Grundmotiv
der US-Außenpolitik, der Ost-West-Konflikt, war natürlich für die Beziehungen
zu Lateinamerika nicht völlig irrelevant, entbehrte hier aber einer realen
Basis und hat auch nur geringen Erklärungswert für die konkrete US-Praxis in
dieser Region. Denn im südlichen Amerika – anders als in Europa oder in
Südostasien – gab es ja keine wirkliche „kommunistische Bedrohung“ gar durch
die UdSSR. Der bürokratische Sozialismus war – wie man an den kümmerlichen,
einflusslosen moskauorientierten lateinamerikanischen
kommunistischen Parteien (mit Ausnahme Chiles) leicht ablesen kann – weder Inspirator noch Förderer oder gar Vorbild für relevante
„antiamerikanische“, nationale linke Oppositionsgruppen und soziale Bewegungen.
Und wo die Sowjetunion schließlich ausnahmsweise doch ein entscheidender Faktor
wurde wie in Kuba – aber auch erst einige Zeit nach der Revolution –, so hatte die US-Reaktion auf Castros Umsturz
daran vielleicht den größten Anteil. Man könnte fast meinen, die USA wurde in
Kuba Opfer ihrer eigenen bezogen auf Lateinamerika tatsächlich unbegründeten
Kommunismushysterie und Moskauphobie und schuf dann in einem ironischen Prozess
der selffullfilling profecy genau
jene Situation, die diese Hysterie schließlich spätestens in der Kubakrise
rechtfertigte und als Realpolitik legitimierte.
Denn man kann
nicht behaupten, dass die USA 50 Jahre lang nicht in der Lage gewesen wären,
korrekt einzuschätzen, dass nicht „Moskau“, sondern die unerträglichen sozialen
und politischen Verhältnisse in den lateinamerikanischen Ländern das zentrale
Risiko für die Stabilität der Region (und damit für die amerikanischen
Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen) waren und sind. Die von den USA als Bedrohung
ihrer Interessen und ihrer Sicherheit wahrgenommenen Revolutions- und
Reformbewegungen in Lateinamerika und ihre tatsächlich oder nur unterstellte
latente oder manifeste anti-US-amerikanische Tendenz waren schließlich kein
Produkt moskaugesteuerter Verschwörer. Sie waren
originäre Reaktionen auf die innergesellschaftlichen Verhältnisse in den
lateinamerikanischen Ländern und diese wiederum waren offensichtlich und direkt
von der Präsenz und Praxis der USA entscheidend mitbestimmt.
Diese Wirklichkeit
zu leugnen, eine irrtümliche Wahrnehmung der USA zu unterstellen und daher
davon auszugehen, der Kalte Krieg sei in der Tat die entscheidende (und nicht
nur propagandistisch eingesetzte) Blaupause zur Begründung und Analyse der
konkreten US-Lateinamerika-Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
gewesen, unterstellt ein solches Ausmaß an ideologischer Befangenheit und
Blindheit eines riesigen politischen Apparats (einschließlich Geheimdienste,
Wissenschaft und Medien), dass es geradezu eine Beleidigung US-amerikanischer
Intelligenz und Politik wäre.
Folgerichtig hat
sich beispielsweise durch die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen
seit Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts und den Fortfall des
Ost-West-Konflikts als Deutungsmuster US-amerikanischer Außenpolitik die
Lateinamerikapolitik auch nicht sonderlich geändert. Für den „Rest der Welt“
sah das anders aus.
Der Zusammenbruch
der Sowjetunion hat das fragile Gleichgewicht des Schreckens aus der Zeit des
Kalten Krieges und die labile Standfestigkeit zweier sich aneinander
anlehnender und damit sich stützender und in Schach haltender Supermächte
beendet. Nach einem Bonmot der neunziger Jahre war die USA ja nicht die
siegreiche, sondern die allein übrig gebliebene Weltmacht. Die Suche nach dem
verlorenen Feind führte Samuel Huntington, den pfiffigen Cheftheoretiker des
nordamerikanischen Konservatismus, schon bald zu der Erkenntnis, dass „ein
gemeinsamer Feind oft helfen kann, die eigene Identität und die
gesellschaftliche Kohäsion zu fördern“. Die aktuelle Regierung hat mit großer
akademischer Kreativität („crazy states“) und griffigen poetischen Slogans („Achse des
Bösen“) ihren Beitrag zu leisten versucht, The Erosion of American National Interests
(so der Titel von Huntingtons Rüstschrift in Foreign Affairs, Nr.5/1997) aufzuhalten.
Mit dem
Amtsantritt von Präsident George W. Bush häuften sich die einseitigen
US-Entscheidungen bei internationalen Fragen in einem selbst die Verbündeten der
USA irritierenden Ausmaß. Hier sei nur in Stichwörtern erinnert an die
Kündigung des ABM-Vertrags zur Beschränkung von Raketenabwehrsystemen, an die
seit 1996 überfällige Ratifizierung des
Atomteststop-Vertrages, an die Weigerung, das Zusatzprotokoll zur
Biowaffenkonvention von 1972 zu unterzeichnen, an die WTO-widrigen
Protektionsmaßnahmen (zum Beispiel bei Stahlimporten), die Nicht-Ratifizierung
der Kinderrechtskonvention von 1989, die Ablehnung des Verbots der Todesstrafe
für Minderjährige, die Aufweichung des UN-Aktionsplans vom Mai 2002 zur Besserung
der Lage der Kinder, die Verwässerung der UN-Konvention zur Einschränkung des
Handels mit Kleinwaffen, die Abkehr vom Kyoto-Protokoll,
die Ablehnung des 1999 in Kraft getretenen Anti-Minen-Abkommens von Ottawa oder
der massive Widerstand gegen die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs
in Den Haag einschließlich der massiven Druck- und Drohkulisse gegenüber
kleineren Ländern, um sie zu Umgehungsabkommen der Strafgerichtshofsprinzipien
mit den USA zu pressen. Kleinigkeiten wie die mit der Drohung eines möglichen
Umzugs des NATO-Hauptquartiers aus Belgien erzwungene Änderung eines Gesetzes
durch das belgische Parlament, mit dem – wie fälschlich von den USA unterstellt
– Exaußenminister Kissinger wegen menschen- und völkerrechtswidriger Aktivitäten
hätte angeklagt werden können, oder die massiven Interventionen in einzelnen
Ländern, damit diese ihre Märkte für US-amerikanische Gen-food
öffnen, belegen das höchst unterschiedliche Maß, mit dem die eigenen nationalen
Interessen und die Souveränität anderer Staaten gemessen werden.
Der Vorwurf der
„double standards“, des zweierlei Maß, der angemaßten
Vorrechte einer „besonders gleichen“ Nation unter den dem UN-Anspruch nach
gleichen Nationen dieser Welt ist von den Kampfblättern der lateinamerikanischen
Linken auf die Kommentarseiten achtbarer amerikafreundlicher
Zeitungen und in manchen dahinter steckenden „klugen Kopf“ gewandert. Selbst
Regierungsvertreter im „alten Europa“ machten Lernfortschritte und öffneten
sich behutsam und mit abgestufter wohl dosierter Empörung diesen für
Lateinamerika ja nun weiß Gott nicht originellen Erkenntnissen.
Der Irak-Krieg und
der darüber offen ausgebrochene Konflikt mit traditionellen Gefolgsleuten und
Freundstaaten thematisierten weltweit die Gefahren für die „westfälische
Staatenwelt“ und ihren 297 Jahre nach dem Frieden zu Münster gegründeten
formell demokratischen Überbau in Gestalt der Vereinten Nationen: So wie das
Prinzip one man one vote unabdingbar für demokratische Gesellschaften ist,
verlängert das UN-Prinzip one state one vote
(mit der Relativierung durch das Vetorechts im Sicherheitsrat) die
Gleichheitspostulate der Menschenrechte auf die Gleichberechtigungshoffnungen
und –illusionen der einzelnen Länder der
internationalen Staatengemeinschaft. Botswana und Brasilien, Island und Indien,
die Malediven und Mexiko – nicht gewogen und daher für gleich befunden im
„Glauben an … die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen
Nationen, ob groß oder klein“ (Präambel der UN-Charta).
„Das
internationale System“ bedürfte grundsätzlich neuer Koordinaten, wenn der
Gleichberechtigungsanspruch der UNO weiter so aggressiv und offensiv – wie im
Irak-Krieg durch die USA und die „willigen“ Verbündeten – missachtet wird. Für
Lateinamerika haben sich die Beziehungen zu den USA schon seit langem unter
anderen Koordinaten definiert. Der sich 2002/2003 in der Position der USA
gegenüber der UNO zur Kenntlichkeit radikalisierende Unilateralismus
bildet den vorläufigen Höhepunkt einer Politik, die sich explizit an einer Freund-Feind-Mechanik
(„wer nicht für uns ist, ist gegen uns“) orientiert und damit weltweit das Ende
von Diplomatie und von dialogfähiger gewaltfreier internationaler Politik
einläutet.
Für Lateinamerika
sind dieser US-Unilateralismus und die Anwendung seines
gesamten Instrumenten-Spektrums, von Anregungen, Belohnungen und Verhandlungen
über Erpressungen, Drohungen und Einschüchterungen bis zur politischen,
ökonomischen und verdeckt oder offen militärischen Intervention, seit weit über
100 Jahren ständige Rahmenbedingung der eigenen Entwicklung und Geschichte.
Bis weit in die siebziger
Jahre hinein war es im politischen Streit und der (damals von diesen Konflikten
nicht all zu weit entfernten) wissenschaftlichen Debatte übrigens durchaus
üblich, diesen Prozess mit der Chiffre „US-Imperialismus“ zu charakterisieren.
Der „Anstrengung des Begriffs“ sich unterziehend, ergaben sich politische und
wissenschaftliche Kontroversen über seine Angemessenheit, seine
terminologischen Unschärfen und über seine teils ideologisch-pragmatisch/programmmatischen, teils methodisch bedingten historischen
Definitionen. Das vertiefte die Ernsthaftigkeit – modischer gesagt, das commitment – der
Analyse der damit zu erfassenden und zu erläuternden konkreten historischen
Sachverhalte und Ereignisse.
Heute scheint es
erneut lohnend, in Wissenschaft und Politik darüber nachzudenken, welchen
analytischen Wert die ja eher beschreibenden Termini für das US-Gebaren, die
heute medial und in der Wissenschaft präsent sind, besitzen. Die Beschreibung
der US-Politik als „imperial“ hat zwar noch phonetische und Erinnerungen
anregende Nähe zur wissenschaftlich und politisch höchst kontroversen
Imperialismusdebatte, doch verraten Bezeichnungen wie „alleinige Supermacht“
oder „Global-Hegemon“ wenig über die höchst verwickelte
und widersprüchliche Komplexität von Politik und Ökonomie in den USA selbst und
in den internationalen politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen
Beziehungen der Staatenwelt und ihrer Gesellschaften.
Diese Komplexität
gilt es jedoch analytisch aufzuschlüsseln und wissenschaftlich und politisch
aufzuheben, damit wissenschaftlicher Diskurs und gesellschaftliche Praxis
Orientierungen erhalten.
Für Lateinamerika
ist das von besonderem Interesse, gerade weil der Kontinent jenseits
historischer oder konjunktureller Konstellationen (zum Beispiel „Kalter Krieg“)
paradigmatische Erfahrungen im Verhältnis zu den USA gemacht hat, die gerade
jetzt fruchtbar gemacht werden können für ein angemesseneres
Verständnis globaler Konfliktperspektiven.
Haben doch die USA
in und mit Lateinamerika eine Beziehungsstruktur geschaffen, die als
„Hinterhof-Modell“ für eine spezifische Form von Asymmetrie und Herrschaft
steht. Pointiert könnte man sagen, dass die letzten Jahre amerikanischer
Politik auch als Versuch gedeutet werden könnten, die weltmarktweite
Verbreitung dieses Hinterhof-Modells mit den notwendigen regionsspezifischen
Varianten durchzusetzen.
Das Vertrauen in
die jahrzehntelangen Erfahrungen und die offensichtlichen Erfolge ihrer
Politik, ihren lateinamerikanischen Hinterhof mit vergleichsweise geringen
finanziellen und militärischen Mitteln durch direkte und indirekte
Interventionen fügsam zu halten und den eigenen Interessen funktional zu
gestalten, mag die Chuzpe begünstigen, mit der die Bush-Administration sich
anschickt, die in Lateinamerika bewährten Prinzipien von Peitsche und
Zuckerbrot weltweit zu erproben.
Ohne den Vergleich
zu sehr zu strapazieren, zeigen die interamerikanischen Beziehungen seit
Jahrzehnten eine Reihe von Charakteristika, die sich heute tendenziell zu einem
Grundmuster der US-Politik auch gegenüber anderen Regionen zu verdichten
drohen.
So haben die USA
herzlich wenig zu einer zum Beispiel die Entwicklungsunterschiede zwischen Nord
und Süd sukzessiv einebnenden Integration des Doppelkontinents beigetragen. Es
ging den USA nie um „gleiche Augenhöhe“, nie um horizontal konzipierte
Zusammenarbeit, nicht um ökonomische oder kulturelle Kooperation mit
gleichberechtigten Partnern.
Ihre erratischen
Bemühungen, Demokratie und Menschenrechte in Lateinamerika zu fördern oder zu
schützen, begriffen mehr oder minder stabile Demokratien im Süden nur als
Variable der eigenen Sicherheit – auch hier liefert der Subkontinent die
Erfahrung, die der Rest der Welt in letzter Zeit zunehmend machen muss, dass es
nicht um Demokratie, sondern um Hegemonie geht. Kurz, die Betrachtung
unterschiedlicher Aspekte der USA-Lateinamerika-Beziehungen könnte
interessantes Lehrmaterial für die künftigen Hinterhöfe in aller Welt abgeben.
Diese Beziehungen
nicht auf die Interaktionen von Repräsentanten nationalstaatlich verfasster
Einheiten zu reduzieren, sondern, im Gegenteil, gesellschaftliche Akteure und Erfahrungen, Konflikte und
Gemeinsamkeiten, Probleme und Erfolge in den Mittelpunkt zu stellen, schärft
den Blick für die Chancen für Veränderungen. Denn dieser Fokus erlaubt vor
allem, die Situation unserer amerikanischen Freunde realistisch, und das heißt
nicht statisch und resignativ, unausweichlich und
hoffnungslos determiniert durch die USA zu sehen. Glücklicherweise fallen auch
ohne Erlaubnis und Kenntnis des Herrschers im Weißen Haus Blätter von den
lateinamerikanischen Bäumen. Daher gilt es, im Einzelfall auszuloten, was denn
die „Rahmenbedingung USA“ für die konkrete Ausgestaltung von Alltag und Leben,
Strukturen und Prozesse, Institutionen und Erfahrungen unserer amerikanischen
Freunde bedeutet.
Ein
offensichtliches Phänomen der Beziehungen zu den USA aus lateinamerikanischer
Sicht – und das zeigt den vitalen Realismus dieses Verhältnisses – ist die
Ambivalenz, mit der die USA von den lateinamerikanischen Gesellschaften
wahrgenommen werden. Das betrifft nicht nur die von Kulturkritikern
thematisierte „Hassliebe“ zum nordamerikanischen Nachbarn – gilt doch das
zitierte Huntingtonwort, dass ein guter gemeinsamer Feind einen wichtigen
Beitrag zur eigenen Identität ausmacht, auch für Lateinamerika. Aber Bewunderung
und Abscheu sind nicht einfach die extremen Endpunkte der Bandbreite von
Einstellungen gegenüber den USA. Vielmehr bleiben die USA das Gelobte Land,
dessen Lebensstandard und Konsummuster – zumal im Vergleich zur eigenen
nationalen Situation – viel zu attraktiv scheinen als dass man sich ihrer
Faszination auf Dauer entziehen könnte. Die eingangs erwähnte wachsende Zahl
von Latinos in den USA ist ein beredter Beleg
hierfür. Gleichzeitig agieren gerade die Migranten
als ambivalente Brückenköpfe, die die klassischen Rezeptionsschemata „die gegen
uns“ schrittweise durchbrechen.
Sie sind unter anderem
in ihrer privaten Kommunikation bei Besuchen, durch Briefe, Mails und
Telefonate Produzenten eines schrittweise differenzierteren USA-Bildes in
Lateinamerika. Denn noch erfolgreicher als die klassische Monroe-Doktrin der
USA als Referenzpunkt für Unilateralisten und Isolationisten war die
Marilyn-Monroe-Doktrin, die hemmungslose Image-Exportstrategie des american way of life, vermittelt unter anderem
über die massive Präsenz nordamerikanischer Fernsehproduktionen in
lateinamerikanischen Haushalten. Diese Einbahnstraßen-Kommunikation wird durch
die sicherlich selektiven, aber für besonders glaubwürdig gehaltenen Erfahrungen
der Migranten erweitert.
Die Migration ist
überhaupt vor allem durch die explosiv steigenden „Remesas“,
die Finanztransfers der Migranten aus dem Zielland in
die Heimat, für die Region zu einer entscheidenden Größe auch der
wirtschaftlichen Entwicklung geworden: Mit rund 32 Milliarden US-Dollar transferieren
die Migranten im Jahr 2002 eine Summe nach
Lateinamerika und in die Karibik, die höher ist als alle Entwicklungshilfegelder
zusammen und damit sogar die Höhe der ausländischen Direktinvestitionen in der
Region erreicht. In Kuba übertreffen die Geldgeschenke seit langem schon die
Erlöse des einstigen Exportschlagers Zucker und inzwischen auch die
Netto-Deviseneinnahmen aus dem Tourismusgeschäft. Im Jahrbuch Lateinamerika 23
über Migrationen wurden die damit aufgeworfenen Fragen einer neuen Art der
„externen Abhängigkeit“ sowie andere Probleme ausführlich analysiert.
In den USA
befördern die Latinos
unter anderem Produktion und Konsum lateinamerikanischer materieller und
kultureller Waren: Das gilt beispielsweise für die spanischsprachigen Programme
im Fernsehen und Rundfunk oder für die zunehmende Popularität von Latino-Stars in der Musikszene. Jennifer Lopez und andere
sind dabei eine fast typische und auf jeden Fall interessante Mischung aus US-amerikanischer
Showbusiness-Produktion und Latino-Rohstoff. Denn es
werden nicht unbedingt bereits in Lateinamerika populäre Künstler zur
Fortsetzung ihrer Karriere in die USA „importiert“. Vielmehr findet ein
professionell geplanter Veredelungsprozess lateinamerikanischen Talents und
Potenzials in den Studios und Kulturfabriken des Nordens statt, der ein authentisch-unverwechselbar
lateinamerikanisches Kunstprodukt made in USA generiert:
Der Reexport US-amerikanischer Latino-Stars nach
Lateinamerika, ihre Wahrnehmung in ihren „Ursprungsländern“ und ihre Wirkung
auf deren Kulturszene dynamisiert dann noch den komplexen Prozess kultureller
Konfrontation und Begegnung bis zu jenem glücklichen Punkt, wo sich die Frage
nicht mehr stellt, was denn nun an Jennifer Lopez lateinamerikanisch und was
nordamerikanisch ist, sondern man einfach zuhört, hinsieht und sich sein Urteil
bildet.
Das gilt in
ähnlicher Form bereits seit langem auch für die bildende Kunst, wie ein Blick
in die Museen und Kunstmärkte in den USA belegt.
Schwieriger
gestaltet sich dieser kulturelle Prozess im Bereich der Wissenschaft, vor
allem, wenn man berücksichtigt, dass Forschung und Lehre vermittelt sind mit
den Fragen von Macht und Herrschaft in den Köpfen und von Markt und Business.
Im Diskurs nicht nur der Sozialwissenschaften Lateinamerikas haben sich die
nordamerikanischen Ansätze in den letzten zwanzig Jahren rasant durchgesetzt.
Curricula und Lehrbücher in den Universitäten, aber auch die auffallende
Abwesenheit interessanter Ideen und origineller Theorieansätze von
lateinamerikanischen Autoren legen davon Zeugnis ab. Gezielte Strategien
privater und staatlicher nordamerikanischer Wissenschaftsinstitutionen, Stiftungen,
Verlage usw. haben hier mit erheblichem finanziellen Einsatz große Erfolge
errungen und nordamerikanische Theorien, Methoden und Themen in einem harten
ideologischen und wirtschaftlichen Verdrängungswettbewerb platziert zu Lasten
lateinamerikanischer (und auch europäischer) Diskurse. Das Jahrbuch
Lateinamerika hat diesen Prozess über Jahre analysiert (unter anderem im
Jahrbuch 17 „Markt in den Köpfen“). Und als die Zeitschrift Nueva
Sociedad (Nr 170) im Jahr
2000 fünfundvierzig jüngere, aber durchaus profilierte lateinamerikanische
Intellektuelle darum bat, das für sie persönlich intellektuell und politisch
wichtigste Buch der letzten Jahre zu rezensieren, ergab sich, dass auf den
Gebieten Staat, Politik, Wirtschaft und Entwicklungstheorie die Mehrzahl nicht
lateinamerikanische, sondern vor allem US-amerikanische Autoren und Titel
benannte (nur im Sektor „Kultur“ überwogen – noch – lateinamerikanische Namen).
Typisch auch, dass die besprochenen Bücher kaum „große Themen und Theorien“,
sondern eher spezifische Teilaspekte gesellschaftlicher Probleme behandelten.
Nicht „das lateinamerikanische Denken“, wenn es denn so etwa überhaupt gibt,
wohl aber das Denken und die Wissensproduktion in (und auch über) Lateinamerika
orientieren sich in den letzten 20 Jahren sehr eng an den Debatten und
Positionen der US-amerikanischen Wissenschaften. Dabei ist schließlich
bemerkenswert, dass einerseits die USA selbst in Lateinamerika nur in
Ausnahmefällen Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sind und relevante
Zentren, die sich mit den USA beschäftigen, kaum existieren. Andererseits
liegen die renommiertesten Institute zu lateinamerikanischen Fragen natürlich
in den USA und in der internationalen Debatte sind nordamerikanische Autoren
Herren der Zitierkartelle in den Untersuchungen über Lateinamerika. Die in den sechziger
und siebziger Jahren artikulierte Kritik lateinamerikanischer Wissenschaftler
an der „intellektuellen Abhängigkeit“ von den USA ist verstummt, der damals
kritisierte Tatbestand hat dagegen in weitaus größerem Umfang weiterhin
Bestand.
Die Dominanz der
USA hat damit jedoch nicht komplett zu einer simplen „Nord-Amerikanisierung“
von Lebensstilen und Werten, von Leitbildern und Normen in Lateinamerika
geführt. Der clash
oder dialogue of cultures
zwischen den Amerikas war natürlich strukturell ungleich, asymmetrisch, einseitig
usw. und hat zweifellos in einigen Lebensbereichen als platte Eroberung und
Unterwerfung stattgefunden. Dieser von relevanten Minderheiten Lateinamerikas
selbst dann eher als lustvoll denn als schmerzlich empfundene Unterwerfungsprozess
stützte sich auf die Attraktivität des Lebens der Eroberer, der den eigenen
Sehnsüchten der Unterworfenen sehr nahe kommt. In anderen Bereichen war die
Begegnung und sind die Beziehungen weniger herrschaftsorientiert.
So ermöglichen etwa die elektronischen Medien neue Formen des horizontalen
Austausches und der Teilnahme im Sinne einer gleichberechtigteren
Partnerschaft, die auch kritische wechselseitige
Fragen erlauben. Auch wenn Lateinamerikaner erst fünf Prozent der weltweiten Internet-Nutzer
stellen, hat der prinzipiell mögliche Zugang zu den internationalen (nicht nur
US-) Kommunikationsnetzen Chancen eröffnet, Rechte neu zu thematisieren. Für
die sozialen Bewegungen des Kontinents zum Beispiel auf den Themenfeldern der
Frauen- und Bürgerinnenrechte, der Menschenrechte generell, der Nachhaltigkeit
und Ökologie und in vielen anderen sozialen Bereichen, die auf Kommunikation
und gemeinsamer Aktion beruhen, haben sich hier die Möglichkeiten erheblich
verbessert. Ohne leugnen zu wollen, dass der Begriff der „kulturellen
Hegemonie“ weiterhin korrekt das Verhältnis USA-Lateinamerika analytisch erfasst,
zeigen sich auf der Erscheinungsebene höchst kreative und dynamische Synkretismen.
Sie belegen zum einen, dass es (schon gar nicht im angeblichen Zeitalter der
berüchtigten Globalisierung und natürlich ohnehin nicht, wenn man die USA zum
Nachbarn hat) keine statische und klar nach geographisch-regionalen oder gar
nationalstaatlichen Grenzen definierbare kulturelle Identität geben kann,
sondern hier ein permanenter, durchaus auch konfliktiver
Prozess stattfindet, der für Lateinamerika im Jahr 1492 definitiv begann. Und
sie zeigen zum anderen, dass weder ein undefinierbares Amalgam noch ein lateinamerikanisches
trashiges
Imitat des US-Originals im Epochenstil der späten Disney-World das notwendige
Resultat sein muss.
Vielleicht liegt
mithin hier noch die größte Chance, eine beide Subkontinente umgreifende „Amerikanisierung“ zu erreichen.
Die Analysen
dieses Bandes versuchen, die konfliktive und
produktive ungleiche Gemeinsamkeit der Amerikas in einzelnen Aspekten zu
beleuchten. Fred Rosen, Direktor des North American Congress on Latin America,
in aller an Lateinamerika interessierten Welt als NACLA bekannt, skizziert mit
einer Fülle analytischer, zeitgeschichtlicher und anekdotischer Details die
Entwicklung dieses Projekts, das stellvertretend steht für „das andere Amerika“,
für die kritische nordamerikanische Wissenschaftsszene. Die Geschichte NACLAs ist Ausdruck und wichtiger Teil der Geschichte der
Beziehungen der USA zu Lateinamerika, denn NACLA und die politische Bewegung, innerhalb
derer NACLA entstand, waren und sind Akteure und Forscher. NACLA repräsentiert exemplarisch damit eine zentrale,
anspruchsvolle und unverzichtbare Tradition kritischer Wissenschaft und
internationaler Solidarität, die aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln
heute wichtiger denn je ist. Für das Jahrbuch Lateinamerika und seine vielen
Herausgeberinnen und Herausgeber, die im Laufe unserer erst 28-jährigen
Geschichte am Jahrbuch beteiligt waren, aber auch weit darüber hinaus für die
gesamte Solidaritätsbewegung in Deutschland und die kritische Wissenschaft ist
NACLA das Symbol jener USA, die uns geholfen hat, stets blindwütigen Antiamerikanismus
abzulehnen zugunsten eines analytischen Blicks auf die Vielfalt und
Vielschichtigkeit dieses Landes. Bei so viel Gemeinsamkeit überrascht nicht,
dass die Darstellung der Geschichte von NACLA in vielen Episoden unmittelbare
Erinnerungen an ähnliche Erfahrungen vergleichbarer Projekte in Deutschland
weckt, in die viele unserer Leser, Autoren und Kollegen eingebunden waren oder
sind.
Urs Müller Plantenberg verbindet in einem großen
historischen und analytischen Bogen die durchaus unterschiedlichen Konjunkturen
der Beziehungen zwischen beiden Subkontinenten, ausgehend von der
unbestreitbaren und vorgegeben asymmetrischen Grundstruktur des Verhältnisses
zwischen einer Weltmacht und, euphemistisch ausgedrückt, deutlich weniger
mächtigen Staaten. Er schärft den Blick vor allem für die
Gestaltungsmöglichkeiten und Spielräume im Rahmen dieser Beziehung, die nicht unilinear als bloße Abfolge von Aggressionen und
Interventionen erfasst werden kann. Diese historische Perspektive erinnert
daran, dass es immer eine USA jenseits der je aktuellen Regierung gegeben hat,
die der entscheidende, weil dauerhafte Referenzrahmen für Lateinamerika ist.
Auch die aktuelle Administration von Bush II ist in diesem Sinne nur eine
Episode.
Mit dem
programmatischen Titel „Weltmarkt oder Weltmacht“ umreißt Elmar Altvater das Spannungsverhältnis zwischen politischer,
ökonomischer und militärischer Macht in der Welt der globalisierten Märkte und
der Staaten, das die USA auf charakteristische Weise und stets konsequent zu
gestalten weiß. Die drei Faktoren ergänzen und fördern sich wechselseitig bei
der Durchsetzung der partikularen und der gemeinsamen Interessen. Und die USA
sind in der augenblicklichen historischen Phase die einzige Macht, die nachgerade
konkurrenzlos in der Lage ist, zur Absicherung eines neoliberalen Weltmarktgeschehens
zur Not auch ihr militärisches Potenzial als Instrument ihrer Außenpolitik zur
Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen.
Die eigene
„Sicherheit und Stabilität“ ist eine zentrale Kategorie der US-amerikanischen
Politik. Dabei ist die Sicherheitsdefinition ein umfassender Set von
ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und militärischen Werten, Zielen
und Interessen und letztlich Chiffre für den eigenen Herrschaftsanspruch. Ulrich Goedeking
zeichnet den komplexen Sicherheitsbegriff nach und exemplifiziert am Beispiel
des nur scheinbar rein ökonomischen Projektes der Amerikanischen
Freihandelszone ALCA, wie sich dort und spezifisch für die Andenländer Bolivien
und Peru seine unterschiedlichen Facetten konkretisieren. Die ökonomischen und
politischen (zum Teil auch, etwa beim Drogenkrieg die militärischen) Aspekte
sind für die beiden Länder zwar grundsätzlich ähnlich wichtig, doch ihre
Reaktionen auf die Herausforderungen durchaus unterschiedlich. Deutlich wird,
dass ein Projekt, das zur vor allem ökonomischen Stabilität und Sicherheit
beitragen soll, für beteiligte höchst ungleiche Staaten auch höchst
unterschiedliche Konsequenzen haben kann.
Die immer
fließender werdenden Grenzen zwischen dem von den USA außerhalb ihres
Territoriums geschürten Krieg gegen die Drogen und ihrem Krieg gegen den Terror
führen in Kolumbien zu einer gefährlichen Gemengelage. Ingrid Vinicius und Adam Isacson vom Center for International Policy,
CIP, Washington, beschreiben den scheinbaren Widerspruch, dass einerseits Kolumbien
seit dem 11. September seine wichtige Bedeutung für die USA verloren hat,
gleichzeitig aber die Unterstützung zunimmt. Der Plan Colombia zeigt seine gefährliche
Zwitterhaftigkeit: Die mit ihm verbundene Hilfe für die Modernisierung des
Landes impliziert im Namen des Kampfes gegen die Drogenmafia eine umfassende
Unterstützung für den kolumbianischen Repressionsapparat. Die dehnbare
Definition des Kampfes gegen den Terror führt eher gewollt als unfreiwillig zu
einer schrittweisen Einbindung der USA in den kolumbianischen
Bürgerkrieg mit unabsehbaren Konsequenzen.
Das für die
Beziehungen zwischen USA und Lateinamerika immer wichtiger werdende Thema der Latinos in den USA wird in zwei Analysen behandelt. Silke Hensel
beschäftigt sich mit den zwei größten Gruppen der lateinamerikanischen Migranten, aus Puerto Rico und aus Mexiko. Die unterschiedlichen
Selbstwahrnehmungen beider Migrantengruppen und ihre
unterschiedlichen Integrationsstrategien erinnern daran, dass die „Latino-Migration“ viele Herkunftsländer und mithin viele
verschiedene Gesichter hat. Das erlaubt kaum, diese Migranten
als einheitlich agierende Bevölkerungsgruppe in die politischen Analysen
einzubeziehen. Rafael Alarcón
dagegen konzentriert sich auf eine empirische Fallstudie einer aus dem
mexikanischen Chavinda kommenden Migrantengruppe,
die sich in einem Ort Kaliforniens niedergelassen haben. Feste Beschäftigung,
Erwerbstätigkeit auch der Frauen und Hauserwerb, so wird klar, sind
entscheidende Faktoren, die die Dauerhaftigkeit und die Art des
Integrationsprozesses bestimmen.
Auf die
„ökonomischen Beziehungen“ zwischen den USA und Lateinamerika wirft Jürgen Weller ein Schlaglicht. Er
kommentiert die relevantesten statistischen Wirtschaftsdaten in den Handelsbeziehungen,
Direktinvestitionen, Verschuldung, Entwicklungshilfe und den Transfers der Migranten.
Wie stets bedanken
wir uns bei unseren Autoren und den Übersetzern, die unentgeltlich ihre Arbeit
in den vom Jahrbuch Lateinamerika repräsentierten und initiierten Diskurszusammenhang
eingebracht haben. Wir freuen uns auch über die hervorragende Zusammenarbeit
mit unserem Verlag, und wir sind froh, Passagiere beim „Westfälischen
Dampfboot“ sein zu dürfen.
Mehr als
Chronistenpflicht ist es, zu vermelden, dass Clarita Müller-Plantenberg,
Gründungsmitglied des Jahrbuch Lateinamerika, sich aus dem Herausgeberteam
zurückgezogen hat, um sich verstärkt ihren vielfältigen anderen
wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Verpflichtungen widmen zu
können. Natürlich freuen wir uns, dass wir auch weiterhin auf ihre Kooperationsbereitschaft
als Autorin und Beraterin rechnen dürfen. Ihre Mitarbeit und ihr entschiedenes
wissenschaftliches und politisches Engagement nicht nur für die Belange der
indigenen Völker oder für eine nachhaltige Politik in Lateinamerika haben das
Jahrbuch zweieinhalb Jahrzehnte mit geprägt. Wir danken ihr sehr herzlich für
die gemeinsamen Debatten und Erfahrungen.
Die Herausgeberinnen und
Herausgeber