Lateinamerika
an der Freien Universität Berlin

Urs Müller-Plantenberg

Das Lateinamerika-Institut, in dem die wissenschaftlichen Bemühungen mehrerer Disziplinen um den lateinamerikanischen Subkontinent an der Freien Universität Berlin zusammenfließen, ist ein Ergebnis der Universitätsreform zu Beginn der siebziger Jahre, die auf die studentische Revolte von 1968 folgte. Genauer betrachtet ist sie das einzige Produkt dieser Reform unter den Institutionen für Forschung und Lehre, das bis heute überdauert hat; denn die beiden anderen Institute für Regionalstudien, das Osteuropa-Institut und das John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerika-Studien hatten sich schon deutlich vor 1968 etabliert, und die übrigen mit der Universitätsreform gegründeten Zentralinstitute haben seither allesamt das Zeitliche gesegnet.

Daß ausgerechnet das Lateinamerika-Institut sich als so stabil erweisen würde, war ihm an seiner Wiege nicht gesungen worden. Schon sehr kurz nach der Gründung erklärten fünf der sechs „Gründerväter“, die die Pläne für das Institut entworfen hatten, ihren Austritt und sorgten so für eine lang anhaltende Dauerkrise. Ihnen hatte eine Forschungsstätte vorgeschwebt, in der sie - ungestört durch studentische Teilhabe an der akademischen Selbstverwaltung - in interdisziplinärer Zusammenarbeit ihren Forschungsinteressen nachgehen könnten. Daß das Institut nun als ein Zentralinstitut für Forschung und Lehre gegründet wurde und sich damit den an der ganzen Universität üblichen Regeln der akademischen Selbstverwaltung zu unterwerfen hatte, fand ihre Mißbilligung; und so nahmen sie schon die ersten Zusammenstöße mit der von ihnen als anmaßend und unverschämt empfundenen Vertretung der Studierenden zum Anlaß, sich von ihrem augenscheinlich mißratenen Kind zu trennen.

Außer dem Historiker Enrique Otte, dessen Arbeiten sich mit der Zeit der Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas beschäftigten, gab es nun keine Professoren mehr am Institut, und so mußte er den Vorsitz in einem Institutsrat übernehmen, in dem die Assistentinnen und Assistenten, die Studierenden und die anderen Dienstkräfte die überwältigende Mehrheit bildeten. Als ihm diese Situation zu unbequem wurde, erklärte er seinen Rücktritt - nicht Austritt wie die anderen - und beschwor so die nächste Krise herauf. Der Assistenzprofessor für Soziologie Volker Lühr übernahm den provisorischen Vorsitz im Institutsrat; aber weil das dem Hochschulgesetz nicht entsprach, entschloß sich FU-Präsident Rolf Kreibich dazu, selbst den Institutsrat zu leiten. Dessen Beschlüsse wurden also auf Sitzungen im neuen Dienstgebäude am Breitenbachplatz vorbereitet und dann im Präsidialamt unter Vorsitz des Präsidenten offiziell abgesegnet.

Aber auch damit geriet das Lateinamerika-Institut nicht aus der Schußlinie, im Gegenteil: Da die Opposition im (West-)Berliner Abgeordnetenhaus ein großes Interesse daran hatte, die Hochschulpolitik von Wissenschaftssenator Werner Stein als unverantwortlich zu kennzeichnen und insbesondere dem als Assistenten zum Präsidenten gewählten Rolf Kreibich Übergriffe nachzuweisen, setzte sie die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses durch, für den als erster Tagesordnungspunkt die angeblich unhaltbaren Zustände am Lateinamerika-Institut gewählt wurden. Die Vorwürfe gegen Rolf Kreibich erwiesen sich als völlig haltlos, und die Arbeit des Untersuchungsausschusses blieb am Ende ohne jedes Ergebnis; aber der Aufbau des Instituts, für das ursprünglich immerhin zehn Professuren in den sechs Disziplinen Altamerikanistik, Geschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft vorgesehen waren, wurde durch diese Auseinandersetzungen doch ungebührlich verzögert.

Eine Verbesserung der Situation ergab sich erst, als 1972 Gerdt Kutscher, stellvertretender Leiter und Wissenschaftlicher Direktor am Iberoamerikanischen Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, für eine Professur in Altamerikanistik am Lateinamerika-Institut gewonnen werden konnte und dann auch den Vorsitz im Institutsrat übernahm. Gerdt Kutscher war der Tradition der Berliner Schule der Altamerikanistik verpflichtet, die seit der Jahrhundertwende große Anerkennung gefunden hatte. Er selbst trat vor allem mit wissenschaftlichen Arbeiten und Editionen zur Ikonographie der Moche-Kultur an der Nordküste Perus hervor. Mit seiner Berufung ergab sich auch eine engere Kooperation des Instituts mit dem Iberoamerikanischen Institut, das über eine der weltweit reichhaltigsten und besten Bibliotheken für die Lateinamerikaforschung verfügt,  ein Umstand, der als Argument für die Gründung des Lateinamerika-Instituts auch eine entscheidende Rolle gespielt hatte.

Die wissenschaftliche Diskussion innerhalb des Lateinamerika-Instituts wurde in den siebziger Jahren gleichwohl im wesentlichen von den Soziologen und ihren Themen bestimmt. Richard F. Behrendt, als Verfasser einer „Sozialen Strategie für Entwicklungsländer“ international ausgewiesen, war zwar einer der Gründer gewesen, die das Institut gleich wieder verlassen hatten; zwei seiner ehemaligen Assistenten aber, Ignacio Sotelo (Verfasser einer „Politischen Soziologie Lateinamerikas“) und Volker Lühr waren als Assistenzprofessoren geblieben und wurden noch in den siebziger Jahren auf Professuren für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas bzw. Entwicklungssoziologie am Institut berufen; und auch zwei seiner ehemaligen Studentinnen, Erika Link und Clarita Müller-Plantenberg, wurden in diesen Jahren zeitweilig Assistentinnen.

Behrendt hatte bei seiner Berufung an die Freie Universität in den frühen sechziger Jahren durchsetzen können, daß ihm für Exkursionen von Studierenden und Forschungsaufenthalte von Promovierenden Beträge zur Verfügung standen, wie sie heute in dieser Höhe völlig undenkbar erscheinen. Das hatte ihm beispielsweise gestattet, 1968/69 eine Gruppe von fünf Doktorandinnen und Doktoranden mit Unterstützung durch Assistenten für ein Jahr zu einem Forschungsaufenthalt nach Chile zu senden. Er selbst war im Oktober 1968 mit dabei, als diese Gruppe das Planungsinstitut (ILPES) bei der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika (CEPAL) in Santiago de Chile besuchte und auf eine Gruppe relativ junger Soziologen aus allen Teilen Lateinamerikas stieß, die unter Leitung des prominenten spanischen Soziologen José Medina Echavarría gemeinsam einen neuen Ansatz zur Analyse der Geschichte und Situation der lateinamerikanischen Entwicklungsländer diskutierten, den sogenannten Abhängigkeitsansatz, der - als dependencia-Theorie mißverstanden - in den siebziger Jahren zu großen Teilen die internationale Diskusssion zu Problemen der „Dritten Welt“ prägen sollte. Zu dieser Gruppe gehörten  neben dem Peruaner Aníbal Quijano, dem Guatemalteken Edelberto Torres Rivas,  dem Argentinier Adolfo Gurrieri und dem Brasilianer Francisco Weffort auch der Chilene Enzo Faletto und der Brasilianer Fernando Henrique Cardoso, die in jenen Tagen gerade ein Manuskript fertiggestellt hatten, das unter dem Titel „Dependencia y desarrollo en América Latina. Ensayo de interpretación sociológica“ („Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika. Versuch einer soziologischen Interpretation“) bald darauf als Buch erscheinen und zum wichtigsten Beitrag der internationalen Diskussion über die Entwicklung (und Unterentwicklung) Lateinamerikas und überhaupt der „Dritten Welt“ werden sollte.

Vier von den deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an diesem Treffen (Volker Lühr, Erika Link, Clarita Müller-Plantenberg und der Verfasser dieses Beitrags) haben bald darauf am Lateinamerika-Institut zu arbeiten begonnen, und es war nur natürlich, daß sie die Analyse der Situation der Unterentwicklung des lateinamerikanischen Subkontinents nicht nur zum Hauptthema ihrer wissenschaftlichen Arbeit machten, sondern auch zum thematischen Kernbereich der wissenschaftlichen Arbeit am Lateinamerika-Institut überhaupt machen wollten. Sie teilten dieses Interesse an einer strukturell-historischen Analyse der lateinamerikanischen Gesellschaftsentwicklung nicht nur mit Ignacio Sotelo, sondern auch mit Jürgen Golte, dem Assistenten für Altamerikanistik, und Hans Krüger, dem Assistenten für Geschichte Lateinamerikas, besonders aber mit Thomas Hurtienne und Tilman Evers, zwei jüngeren Soziologen, die dann in den siebziger Jahren als Assistenzprofessoren am Institut tätig waren. Hurtienne und Evers haben sich - jeder auf seine Weise - in besonderem Maße darum verdient gemacht, daß die Bemühungen um eine Theorie der Unterentwicklung nicht in den Strudel der Schematisierung mündeten, der viele Beiträge zur sogenannten dependencia-Theorie - in Lateinamerika und Europa - kennzeichnete, sondern so differenziert und materialreich waren wie schon das grundlegende Buch von Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto. (Cardoso wurde übrigens 1994 Staatspräsident Brasiliens und ist als solcher 1995 von der Freien Universität Berlin unter Mitwirkung des Lateinamerika-Instituts mit dem Titel eines Ehrendoktors ausgezeichnet worden).

Die politischen Entwicklungen der siebziger Jahre in Lateinamerika haben das Interesse an solcher Art Wissenschaft in der akademischen Welt und bei den Studierenden noch weiter gefördert. Der Wahlsieg  (1970) und die Regierungszeit der Unidad Popular unter dem Präsidenten Salvador Allende in Chile sowie der anschließende Putsch des Militärs unter General Augusto Pinochet (1973) steigerten nicht nur die Intensität der wissenschaftlichen Beschäftigung; sie führten dem Institut auch neue Kräfte zu. Dank der Unterstützung des Außenamtes konnten die bekannten Ökonomen Andre Gunder Frank und Franz Josef Hinkelammert, die Chile fluchtartig hatten verlassen müssen, zeitweilig als Gastprofessoren verpflichtet werden. Mehrere chilenische Wissenschaftler, unter ihnen Víctor Farías, der dem Institut bis heute angehört, durch ein Buch über Heidegger weltweit bekannt geworden ist und die kritische Ausgabe der Werke Pablo Nerudas leitet, konnten als Assistenten eingestellt werden; und Kanzler Bormann sorgte auch dafür, daß zwanzig Stipendien der Freien Universität für junge Flüchtlinge bereitgestellt wurden, die inzwischen - nach einer unvollständigen Demokratisierung Chiles - in der Verwaltung, in der Industrie und im Kulturleben des Landes eine führende Rolle spielen.

Die Militärdiktaturen, die sich Mitte der siebziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etabliert hatten und die Durchsetzung einer Wirtschaftspolitik erzwangen, die - früher noch als im Großbritannien der Margaret Thatcher oder in den USA des Ronald Reagan - neoliberalem Denken verpflichtet war, wurden zum Ausgangspunkt eines ersten größeren Forschungsprojektes, das von der Volkswagenstiftung finanziert wurde. In enger Kooperation mit den wichtigsten Sozialforschungsinstituten in São Paulo wurden unter der Leitung von Volker Lühr die Legitimationsprobleme der brasilianischen Militärherrschaft untersucht, wobei die chilenische Militärdiktatur zum Vergleich herangezogen wurde. Zugute kam diesem Projekt, daß während seiner Laufzeit mit dem Ökonomen Manfred Nitsch ein Professor ans Institut berufen wurde, der mit der Entwicklung Brasiliens in besonderem Maße vertraut war.

Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen Lateinamerikas in den siebziger Jahren waren für Tilman Evers, Clarita Müller-Plantenberg und den Autor dieses Beitrags zusammen mit anderen 1977 auch der Anlaß, die Herausgabe eines ersten Jahrbuchs „Lateinamerika. Analysen und Berichte“ zu wagen. Von diesem Jahrbuch, an dem später auch andere Mitglieder des Instituts wie Volker Wünderich (Geschichte), Juliana Ströbele-Gregor, Wolfgang Gabbert (beide Altamerikanistik) und Bert Hoffmann (Politikwissenschaft) bei der Herausgabe und viele andere durch Beiträge mitgearbeitet haben, existieren inzwischen 24 Bände. Die Analysen des jeweiligen Bandes gelten einem großen Thema (beispielsweise „Vom Umgang mit Gewalt“ oder „Markt in den Köpfen“); dazu kommen Länderberichte über die Entwicklungen des letzten Jahres oder der letzten Zeit.

Die hohe Aktualität der gesellschaftlichen und politischen  Entwicklung in Lateinamerika war wohl in den siebziger Jahren auch die Ursache für das steile Ansteigen der Zahl der Studierenden. Nicht nur in den Gesellschaftswissenschaften, sondern auch in Altamerikanistik und Lateinamerikanistik, den Fächern, für deren Studium das Institut trotz großer Personalknappheit jetzt die volle Verantwortung und Planungskompetenz übernahm, wurden die Übungen und Seminare immer voller. Am Ende des Jahrzehnts gab es über 200 Studierende der Altamerikanistik und über 250 Studierende der Lateinamerikanistik. Nachdem das Institut 1979 eine verbindliche Studienordnung für diese beiden Fächer verabschiedet hatte, stiegen diese Zahlen bis zur Mitte der achtziger Jahre sogar auf mehr das Doppelte, um erst dann allmählich wieder zurückzugehen.

Für die wenigen Lehrenden in diesen beiden Fächern ergab sich daraus eine schwere Belastung. In der Lateinamerikanistik wurde Mitte der siebziger Jahre der Argentinier Alejandro Losada als Professor für hispanoamerikanische Literatur berufen. Neben den vielen Aufgaben in der Lehre gelang es ihm, für das große Projekt einer Sozialgeschichte der lateinamerikanischen Literatur eine große Zahl von Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Aus dem Institut beteiligten sich an dieser Arbeit, deren Gliederung nach Perioden und Regionen sehr gründlich diskutiert wurde, vor allem die Hochschulassistentin Ineke Phaf, der Akademische Rat und Lektor Berthold Zilly, Fachmann für Brasilien, der kubanische Lektor Rafael Camacho und der schon erwähnte Víctor Farías. Mit dem plötzlichen Tod von Alejandro Losada bei einem Flugzeugunglück auf dem Weg zwischen Havanna/Kuba und Managua/Nicaragua im Jahre 1985 verlor dieses vielversprechende Großprojekt leider seinen wichtigsten Vorkämpfer, der nicht wirklich zu ersetzen war.

In der Altamerikanistik ruhte, nachdem Gerdt Kutscher pensioniert worden war, die Hauptlast der Lehre auf Jürgen Golte, einem seiner Schüler, der 1980 zum Professor ernannt wurde. Er konnte die enge Zusammenarbeit, die er schon seit langer Zeit mit dem Instituto de Estudios Peruanos in Lima gepflegt hatte, für sozialwissenschaftlich orientierte Forschungsarbeiten zu Bauernkulturen, Migration und Urbanisierung im andinen Raum nutzen, die von der Volkswagenstiftung gefördert wurden und an denen eine wachsende Zahl von Doktoranden beteiligt werden konnte. Für einige Semester war in den achtziger Jahren auch Berthold Riese als Professor am Institut tätig. Seine archäologisch orientierte Forschungsarbeit galt der Dokumentation, Deutung und Entzifferung der Skulpturen und Inschriften der Maya in Copán/Honduras und erregte mit neuen Ergebnissen nicht nur unter Experten großes Aufsehen. Erwin Frank war mehrere Jahre Hochschulassistent für Altamerikanistik am Institut und steuerte mit neuen methodologischen Überlegungen zur Ethnologie, insbesondere in Auseinandersetzung mit Problemen der Kulturökologie bei Tiefland-Indianern in der Amazonasregion, zu einer lebendigen Forschung und Lehre in diesem Fach bei. Juliana Ströbele-Gregor, Ingrid Kummels und Wolfgang Gabbert haben sich seither sehr intensiv mit den Strategien indianischer Bevölkerungsgruppen in ihrem jeweiligen Verhältnis zur nationalen Gesellschaft in Bolivien, Guatemala und Mexiko befaßt.

Mit der Berufung von Renate Rott auf eine zweite Professur in Soziologie im Jahre 1980 wurden die Grundlagen für einen weiteren wichtigen Schwerpunkt der Forschung (und Lehre) am Institut gelegt, nämlich für die Frauenforschung. Seit 1984 wurden jährliche Arbeitstagungen durchgeführt, die von einer Arbeitsgruppe um Renate Rott vorbereitet wurden. Verschiedene Forschungsprojekte zu den Themenbereichen Frauenarbeit im formellen und informellen Sektor und Arbeitsmigration von Frauen wurden von der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Volkswagenwerk finanziert. Die Erwerbsarbeit von Frauen im Dienstleistungssektor Mexikos, die politische Partizipation von Frauen und die Zielsetzungen der mexikanischen Sozialpolitik waren Themen, mit denen sich Marianne Braig auseinandersetzte und für die Übernahme einer Professur in Frankfurt am Main qualifizieren konnte. In jüngster Zeit hat Barbara Dröscher vor allem frauenspezifische Themen in der Literaturwissenschaft aufgegriffen.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ist in den achtziger Jahren - vor allem durch Initiativen von Manfred Nitsch - eine Reihe von Projekten durchgeführt und begonnen worden, die dem Lateinamerika-Institut in den Fachkreisen sowohl in Lateinamerika als auch in Europa großes Ansehen eingebracht haben. Schon 1983 wurde ein Forschungsprojekt abgeschlossen, das sich mit dem brasilianischen Biotreibstoffprogramm PROALCOOL beschäftigte. Der Nachweis, daß dieses Programm ökonomisch wie ökologisch von höchst zweifelhaftem Wert ist, sorgte in Brasilien für viel Aufsehen. Zu einem Dauerthema der Arbeitsgruppe der Ökonomen am Lateinamerika-Institut wurde die "Erschließung" Amazoniens mit den problema-tischen Auswirkungen der großen Agrar-, Viehzucht-, Bergbau- und Industrieprojekte auf Ökologie und indianische Lebenswelt dieses größten tropischen Regenwaldgebiets der Welt. In enger Zusammenarbeit mit Elmar Altvater vom Fachbereich Politikwissenschaft, mit der Universidade Federal do Pará in Belém und anderen interdisziplinären Arbeitsgruppen entwickelten vor allem Manfred Nitsch und Thomas Hurtienne Aktivitäten, die dem Institut auch international das Prestige eines Zentrums in diesem Bereich einbrachten. Das im engeren Sinne ökonomische Interesse von Manfred Nitsch richtete sich auf die Rolle von Entwicklungsbanken und Sparkassen im Entwicklungsprozeß.

Natürlich haben die von Internationalem Währungsfonds und Weltbank eingeforderten Anpassungspolitiken und die Inflationsbekämpfung der lateinamerikanischen Länder in der Folge der Verschuldungskrise der achtziger Jahre bei Ökonomen, Soziologen und Politologen am Institut großes Interesse hervorgerufen. So entstand zu diesem Themenkomplex - in engem Austausch mit der monetär-keynesianischen Schule von Hajo Riese am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft nicht nur eine Vielzahl von Dissertationen, sondern es gab auch mehrere größere Forschungsprojekte. Edgar Fürst, Wolfgang Hein und Alrich Nicolas, jeweils zeitweilig Assistenten der Ökonomie behandelten in ihren Projekten Anpassungspolitiken in Mittelamerika und in der Karibik. Barbara Töpper und der - früh verstorbene - Leopoldo Mármora, beide der Politikwissenschaft verpflichtet, konnten nach ihrer Zeit am Institut zu Beginn der neunziger Jahre zusammen mit Thomas Hurtienne und dem Autor dieses Berichts ein größeres Forschungsprojekt durchführen, das sich auf die Analyse der Chancen und Risiken der Weltmarktintegration der Länder Argentinien, Chile und Uruguay richtete und an dem dank der Finanzierung durch die Volkswagenstiftung auch Forschungsgruppen aus diesen Ländern direkt beteiligt waren. Für die interdisziplinäre Zusammenarbeit am Institut sehr nützlich war auch die Tatsache, daß Reinhard Liehr nach seiner Berufung zum Professor für Geschichte am Institut das Thema der Geschichte der Verschuldung der lateinamerikanischen Staaten zu einem zentralen Thema seiner Forschung und der von ihm beantragten Forschungs- und Publikationsprojekte machte.

Die starke studentische Nachfrage nach der Lehre und die intensiven Forschungsbemühungen der am Institut tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedeuteten nun aber nicht, daß die Sorgen um die Weiterexistenz des Instituts obsolet geworden wären. Im Gegenteil hielt es Mitte der achtziger Jahre der damalige Berliner Wissenschaftssenator Kewenig für richtig, eine - wegen der Teilnahme eines Schweizers und einer Österreicherin „internationale“ - Expertengruppe zu berufen, die Vorschläge für die Zukunft des Instituts machen sollte. Nach einer äußerst kurzen Anhörung der Institutsmitglieder hielt es diese Kommission auf Vorschlag von Professor Hirsch-Weber, einem der enttäuschten „Gründerväter“ von 1970, für richtig, die Entlassung aller Mitglieder des Instituts, eine sofortige Neugründung mit der Berufung von 16 ordentlichen Professoren und die Ausrichtung auf die Ausbildung einer lateinamerikanischen Elite von Studierenden zu empfehlen. War der erste Teil dieses Vorschlags schon aus beamtenrechtlichen Gründen unmöglich und der zweite Teil wegen der auch zu dieser Zeit schon spürbar knappen Kassen des Staates und der Universität undenkbar, so paßte der dritte Teil kaum in die Wissenschaftslandschaft der Freien Universität. Da diese Pläne also nicht weiterverfolgt werden konnten, wurde im Kuratorium der Freien Universität Ende 1988 beschlossen, dem Lateinamerika-Institut aus systematischen Überlegungen heraus die Zuständigkeit für das Fachstudium der Lateinamerikanistik zu entziehen. Die Studierenden des Lateinamerika-Instituts antworteten darauf mit einem Streik, der sich - auch wegen einiger Kuratoriumsbeschlüsse zu anderen Bereichen der Universität - wie ein Lauffeuer in der ganzen Halbstadt verbreitete und die gesamte Lehre an den (West-)Berliner Hochschulen für den Rest des Wintersemesters 1988/89 lahmlegte. Nach den Wahlen für das Abgeordnetenhaus vom Februar 1989, die einen Wechsel in der Zusammensetzung des Berliner Senats bewirkten, änderte sich das Klima, und die Kuratoriumsbeschlüsse wurden vollständig zurückgenommen. Mit einer Novellierung des Berliner Hochschulgesetzes erhielten der Mittelbau, die anderen Dienstkräfte und die Studierenden dann auch die Mitwirkungsrechte an der akademischen Selbstverwaltung zurück, die sie vorher zeitweilig verloren hatten.

Seither hat sich das Institut ohne weitere Störung von außen kontinuierlich konsolidieren können. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands ist ihm - allerdings auf Kosten anderer Institutionen - sogar eine noch wichtigere Rolle zugewachsen, weil es nach der Schließung der über Lateinamerika arbeitenden Institute an den Universitäten in Rostock und Leipzig nun das einzige seiner Art in weitem Umkreis ist. Entsprechend haben nach 1989 zunächst die ohnehin schon hohen Zahlen der Studierenden am Institut zunächst noch weiter zugenommen.

Die Stabilisierung des Instituts hat sich besonders im Studienfach Lateinamerikanistik positiv ausgewirkt. So konnte mit der 1990 erfolgten Berufung des Kolumbianers Carlos Rincón endlich die seit dem Tod von Alejandro Losada 1985 verwaiste wichtigste Professur in diesem Fach neu besetzt werden. Mit der fast gleichzeitigen Einstellung von Ulrich Fleischmann, der vorher schon Professor auf Zeit gewesen war, wurde nicht nur das Lehrangebot in der Lateinamerikanistik erweitert, sondern auch ein großer Kenner der Karibistik gewonnen.

In Carlos Rincón hat die Lateinamerikanistik jetzt einen Professor, der diese Disziplin als literaturwissenschaftlich fundierte Kulturwissenschaft vertritt und vor allem die Fragenkomplexe periphere Modernität und Moderne in Lateinamerika untersucht. Veröffentlichungen in diesem Bereich haben ihm den kolumbianischen Nationalpreis in der Sparte Essay eingetragen. Theoretische und methodologische Fragestellungen zum Diskurs der Stadt, zum narrativen Diskurs der Postmoderne, zur Geschichte der Intellektuellen, zur lateinamerikanischen Moderne und zur Utopieforschung haben in der ersten Hälfte der neunziger Jahre sowohl seine Tätigkeit wie die der Assistentinnen Petra Schumm, Susanne Klengel und Ellen Spielmann in Forschung und Lehre bestimmt.

Großes Ansehen und einhelliges Lob bei der deutschen Literaturkritik sowie den Wieland-Übersetzerpreis hat sich Berthold Zilly, akademischer Rat und Lektor für Brasilianistik, 1994 mit seiner Übersetzung des Meisterwerks „Os Sertões“ („Krieg im Sertão“) von Euclides da Cunha aus dem Jahre 1902 erworben. Die 1996 endlich erfolgte Besetzung der Professur für Brasilianistik am Institut mit Ligia Chiappini Moraes Leite, die ihr Augenmerk vor allem auf die Frage nach der Aktualität der großen Figuren der brasilianischen Literatur, Anthropologie und Soziologie für die Analyse des heutigen Brasiliens und der heutigen Welt überhaupt richtet und die Voraussetzungen für eine enge Zusammenarbeit mit der Universidade de São Paulo schafft, hat für die Lateinamerikanistik endlich einen Zustand gebracht, in dem ein Studium dieses Faches in seiner ganzen Breite am Institut möglich ist.

Ähnliches gilt jetzt auch für die Altamerikanistik. Mit der Berufung von Ursula Thiemer Sachse, die durch zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Kultur des indianischen Mesoamerika ausgewiesen ist, als Professorin auf die seit dem Weggang von Berthold Riese verwaiste zweite Professorenstelle wurde eine Lücke geschlossen und eine bessere Arbeitsteilung in Forschung und Lehre in diesem Fach ermöglicht.

Wenn die Freie Universität sich wirklich entschließt, in den regional orientierten Zentralinstituten ein wesentliches Merkmal ihres Profils zu fördern, müßte dem Lateinamerika-Institut nach allen überstandenen Kämpfen noch eine lange und große Zukunft bevorstehen.