Warum die Grünen
 bei den Landtagswahlen Stimmen verlieren

Urs Müller-Plantenberg

Die auf den folgenden Seiten ausgebreiteten Thesen sollen belegen, dass man über das hier gestellte Thema zwar sehr viel reden kann, dass es aber dennoch eigentlich gar nicht von sehr großer Bedeutung ist. Dieser Nachweis ist natürlich nur möglich, wenn man das Thema in einen größeren Zusammenhang stellt; und diesen größeren Zusammenhang stellen die Ergebnisse der Bundestagswahlen von 1949 bis 1998 dar, genauer gesagt, die Zweitstimmenanteile an den Wahlberechtigten bei diesen Wahlen. Das bedeutet, dass man nicht – wie das gewöhnlich bei den Darstellungen im Fernsehen und in den Zeitungen geschieht – nur jeweils die Prozente an den gültigen Stimmen betrachtet, sondern die Enthaltungen (und die ungültigen Stimmen) mitbetrachtet.

Zu diesem Zweck wurde hier das Parteiensystem so geordnet, dass die Parteien zwei Lagern zugeordnet wurden, einem linken Lager und einem rechten Lager. Das »linke Lager« besteht zum einen aus KPD, DKP, PDS, zum anderen aus der SPD und schließlich aus den GRÜNEN. Und das »rechte« Lager besteht aus der CDU/CSU, der FDP und den Sonstigen, zu denen Parteien wie die katholische Zentrumspartei, die Bayernpartei, vor allem aber die Parteien der extremen Rechten gehören.

Wenn man sich nun das erste Schaubild ansieht, kann man feststellen, dass es insgesamt über die ganzen fünfzig Jahre seit Gründung der Bundesrepublik ein stetiges Wachstum des »linken« Lagers gegeben hat, wobei das Wort »links« wirklich in Anführungszeichen stehen muss, denn die Inhalte dessen, was hier von den Parteien des »linken« Lagers an Politik vertreten worden ist, sind natürlich zwischen den Parteien, aber auch in der Zeit unglaublich verschieden gewesen, man denke etwa an den Einschnitt, den das Godesberger Programm für die SPD bedeutet hat. Entsprechendes gilt natürlich auch für das »rechte« Lager. Den Raum zwischen den beiden Lagern nehmen im Schaubild die Enthaltungen ein. Wie man sieht, hat ihr Anteil seit der Gründung der Bundesrepublik bis zu den Wahlen von 1972 kontinuierlich  abgenommen und danach bis 1990 relativ stark zugenommen, und erst in der letzten Zeit gab es gegenüber 1990 wieder einen leichten Rückgang. Es ist hier darauf hinzuweisen, dass sich die Daten ab 1990 auf Gesamtdeutschland beziehen, was insofern gerechtfertigt erscheint, als sich der vor 1990 vorhandene geschilderte Trend nicht nur in den alten Bundesländern fortsetzt.

 

Von dem allgemeinen Trend, der besagt, dass das »linke« Lager ganz allmählich zunimmt und das »rechte« in ähnlicher Weise allmählich abnimmt, gibt es, wie wir auf dem ersten Schaubild sehen können, einzelne Abweichungen, gewissermaßen Ausrutscher in der einen oder anderen Richtung. Da sind zuerst die so genannten Adenauer-Wahlen von 1953 und 1957 zu nennen, als es der CDU/CSU nicht nur gelungen ist, große Teile der kleineren bürgerlichen Parteien – mit Ausnahme der FDP – für sich herauszubrechen (DP, BHE, Z, BP, WAV, DRP etc.), sondern auch bisherige Nichtwähler in großer Zahl an die Wahlurnen zu bringen. Den zweiten Ausschlag bringt dann die Brandt-Wahl von 1972, die deutlich nach der anderen Seite hervorsticht. Die dritte Abweichung vom Trend ergab sich bei der Strauß-Wahl von 1980, bei der die CDU/CSU plötzlich deutlich weniger Stimmen bekommen hat, vor allem, weil sich mehr Leute der Stimme enthalten haben. Der vierte Ausschlag errgab sich bei den Einheitswahlen von 1990, wo gewissermaßen eine andere Grundlage gegeben war und es insgesamt sehr viele Enthaltungen gab.

Wenn man diese Abweichungen als Bestätigung einer allgemeinen Regel akzeptiert, so stellt sich eine eindeutige langfristige Tendenz zur Stärkung des »linken« Lagers und zur Schrumpfung des »rechten« Lagers als diese Regel dar. Und alles deutet darauf hin, dass diese Entwicklung auch in Zukunft so weiter gehen könnte.

Warum ist aber die Entwicklung der Bundesrepublik anders wahrgenommen worden, nämlich als eine Geschichte, in der es immer wieder einen Wechsel zwischen der Vorherrschaft der Rechten und der Linken gab? Folgten nicht auf die rechten Bundeskanzler Konrad Adenauer und Ludwig Erhard die linken Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt? Und ging es dann nicht 1982 zurück zu Helmut Kohl und dann wieder zurück (oder vorwärts) zu Gerhard Schröder? Die Ursache für diese einerseits richtige, andererseits aber den großen Trend verhüllende Wahrnehmung liegt darin, dass die FDP sich zeitweilig mit der SPD zur sozialliberalen Koalition zusammengeschlossen hat. Man nimmt rückblickend die Zeit dieser sozialliberalen Koalition als eine Periode der Vorherrschaft der Linken wahr, auf die dann die rechte Ära Kohl folgte. In Wirklichkeit hatte das »rechte« Lager während dieser ganzen Zeit – bis 1998 – die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hinter sich.[1]

Im zweiten Schaubild wurden die Stimmen der FDP für die Wahlen von 1972, 1976 und 1980 auf die Seite des »linken« Lagers gebracht, womit sich das Bild ergibt, das man gewöhnlich von der politischen Entwicklung hat, nämlich die Vorstellung wechselnder Mehrheiten.

 

Wenn man die Ergebnisse der beiden Lager direkt gegeneinander hält und die Trendlinien zieht, so gibt es keinen Zweifel, dass die rot-grüne Koalition das Ergebnis einer eindeutigen Entwicklung ist.

Die Analyse von Michel Vester und anderen (1993) über soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel kann eine Erklärung dafür bieten, warum diese Lager so relativ stabil sind beziehungsweise so relativ eindeutig in dieser oder jener Richtung fortschreiten: Weil nämlich die Milieus, aus denen sich die Lager rekrutieren, auch außerordentlich träge sind. Man kann die Zusammensetzung der Gesellschaft nach diesen Milieus nicht als eine begreifen, die sich ruckartig in dieser oder jener Richtung verändern könnte. So langsam, wie sich die Milieus verschieben, so langsam verschiebt sich die Relation der Parteienlager zueinander.

Warum nun das Ganze hier? Was hat das mit dem Thema zu tun?

Nun, bei den Landtagswahlen hat es grundsätzlich immer mehr Enthaltungen gegeben als bei den jeweils vorangehenden Bundestagswahlen in dem jeweiligen Bundesland. Durchgängig. Mal blieb die Wahlbeteiligung etwas mehr hinter der bei den Bundestagswahlen zurück, mal weniger; aber es hat grundsätzlich bei keiner Landtagswahl so viele Stimmabgaben gegeben wie die den Bundestagswahlen. Der Platz reicht hier nicht aus, um die Wahrheit dieser Behauptung für alle elf beziehungsweise sechzehn Bundesländer zu belegen. Immerhin hat Jürgen Seifert (1976) diesen Tatbestand für die Zeit zwischen 1949 und 1976 empirisch so überzeugend nachgewiesen, dass alle, die – wie der Verfasser dieses Artikels – seinen Aufsatz kannten, keine Schwierigkeit hatten, sich bei jeder Landtagswahl zu überzeugen, dass diese Regel auch weiterhin ohne Ausnahme gilt.

Das bedeutet, dass die Bundestagswahlen jeweils das gesamte Potenzial anzeigen, das im Prinzip bei Landtagswahlen ausgeschöpft werden könnte. Die folgende Regel gilt nun aber nicht mehr für einzelne Parteien, sondern nur für die oben konstruierten Lager. Bei Landtagswahlen hat nämlich niemals ein Lager – das »linke« beziehungsweise das »rechte« Lager – mehr Stimmen erhalten als bei vorangehenden Bundestagswahlen. Das gilt, wie schon gesagt,  nicht für einzelne Parteien. Es ist also durchaus möglich, dass die PDS plötzlich mehr Stimmen bei einer Landtagswahl erhält als bei der Bundestagswahl. Aber das Lager insgesamt – wahrscheinlich würden sich die Grünen und die SPD und überhaupt alle weigern, überhaupt von einem Lager zu reden –,  das Lager also hat dann jeweils weniger Stimmen erhalten als bei den vorangehenden Bundestagswahlen.

Das ist aber nicht der einzige Punkt, sondern es gibt noch einen deutlichen Unterschied zwischen den Parteien, die in Bonn – oder dann in Berlin – an der Regierung waren, und den Parteien, die in der Opposition waren. Da gibt es eine deutliche Schieflage. Die Bonner Oppositionsparteien konnten in der Regel bei Landtagswahlen das Potenzial voll ausschöpfen, die Regierungsparteien nicht. Die Oppositionsparteien in Bonn bzw. in Berlin waren in der Regel in der Lage, alle Stimmen, die sie bei den Bundestagswahlen bekommen hatten, auch beoi den Landtagswahlen wiederzubekommen. Umgekehrt nicht. Das heißt, die Parteien, die in Bonn – beziehungsweise dann in Berlin – an der Regierung waren, konnten das nicht.

Die Erklärung für die Tatsache, dass die Oppositionsparteien bessere Chancen haben, ihr Potential auszunutzen als die Regierungsparteien, liegt einfach darin, dass bei den Landtagswahlen die Parteien der Opposition im Bundestag die Unzufriedenheit ihrer Wählerinnen und Wähler mit der Situation in der Bundesrepublik voll ausnutzen konnten, egal ob sie im jeweiligen Bundesland an der Regierung waren oder nicht. Und dass sie deshalb besser in der Lage waren, ihr ganzes Wählerpotential voll auszuschöpfen. Enttäuschung kann es eigentlich nur bei den Parteien geben, die die Bundesregierung tragen. Denn die Regierung bestimmt das Geschehen im Bund, und über diese Regierung wird auch bei Landtagswahlen immer mit abgestimmt. Das ist übrigens auch die Erklärung dafür, warum sowohl die Regierung Schmidt, als auch die Regierung Kohl, als auch jetzt die Regierung Schröder binnen kurzer Zeit nicht mehr auf eine Mehrheit im Bundesrat rechnen konnten. Die Länder sind ihnen jeweils nach einer gewissen Weile regelrecht weggeschwommen. Betrachtet man jetzt unter diesem Gesichtspunkt die Wahlen von 1999 in Hessen, Thüringen und Berlin, so entsprechen die Ergebnisse völlig dem von mir hier dargestellten Trend. Das heißt, die Bonner Regierungsparteien haben – wie schon in früheren Zeiten jeweils in den ersten vier Jahren nach dem Regierungswechsel – stark nachgelassen.

Jetzt kann man natürlich alle möglichen Thesen aufstellen, warum das im Einzelnen so ist. Eike Hennig (2000, S. 6) hat das in einem Aufsatz für die Grünen aufgeführt:

»Gerade in ‚ihrem Milieu’ wirken die Grünen wenig attraktiv und mobilisierend. Moralischer Rigorismus, Enttäuschungen über die manifest werdenden Inkompetenzen, Frust über den Regierungsalltag mit kleinsten Schritten, größeren Fehlern und viel Symbolik, der schwindende Glanz postmaterieller Themen (wie Selbstbestimmung, Umwelt, Multikulturalismus) gegenüber zunehmenden Härte- und Mangelerfahrungen, verkannte Polarisierungen und Mobilisierungseffekte, wie sie der hessischen CDU bei der Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft geholfen haben, dies sind Punkte, die in ihrer Summe Wähler und Wählerinnen der Grünen arg verunsichern dürften. Die Partei selbst bemerkt dies, reagiert darauf ‚wie immer’ mit  Organisations-, Personal- und Programmdebatten. Dies nährt einen offenen Zirkel von organisatorischer Hektik und einem wachsenden Ver- und Zutrauensentzug, ein Schnitt dieses gordischen Knotens ist nicht in Sicht.«

Das sind jetzt viele Einzelpunkte, über die man jeweils lange reden könnte, wo man also seinen Geist anstrengen kann, aber es wird nichts helfen. Im Wesentlichen wird es immer so sein, dass die Regierungsparteien bei den ersten Landtagswahlen nach dem Regierungswechsel verlieren. Die Sensation unter diesem Gesichtspunkt ist Schleswig-Holstein. Und zwar deswegen, weil da das »rechte« Lager, also das Oppositionslager nicht in der Lager war, sein Potenzial besser auszuschöpfen als das »linke« Lager, das Regierungslager. Das ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Das betrifft natürlich wieder nur das Lager, weil die Grünen in diesem Fall in Schleswig-Holstein verloren haben. Dass sich die Regierungsparteien im Bund bei Landtagswahlen so gut halten konnten, ist wirklich sensationell.

Was lässt sich jetzt erwarten? Angesichts der Trägheit der Milieus kann man erwarten, dass sich die Potentiale der beiden Lager so weiter entwickeln werden wie bisher. Das würde bedeuten, dass bei den nächsten Bundestagswahlen von 2002 das Potenzial des »rechten« Lagers eher schrumpft, als dass es wächst. Und umgekehrt, dass das Potenzial des »linken« Lagers eher weiter wächst, als dass es schrumpft. Gleichzeitig kann man annehmen, dass bei den anstehenden Landtagswahlen in den nächsten zweieinhalb Jahren das linke Lager sein Potenzial nicht voll ausschöpfen kann. Für Nordrhein-Westfalen und all die anderen Bundesländer kann man also annehmen, dass dort das linke Lager nicht in der Lage sein wird, sein Potenzial voll auszuschöpfen. Einfach deswegen, weil viele Anhängerinnen und Anhänger der Berliner Regierungsparteien unzufrieden sind und sagen, so könn man nicht weitermachen.

Daraus zu schließen, dass das »linke« Lager verloren sei, ist völlig verkehrt. Ich spreche aber bis hierher nur von den Lagern. Das heißt, innerhalb der Lager sind jedenfalls nach dem, was man aus den statistischen Daten der letzten Jahrzehnte folgern kann, noch gewaltige Umschichtungen möglich. Die Grünen hätte es beispielsweise nie gegeben, wenn sich der Trend, der bis 1980 innerhalb des »linken« Lagers tonangebend war, immer so fortgesetzt hätte. Es stellen sich Fragen wie: Wächst die FPD auf Kosten der CDU/CSU? Wachsen die Sonstigen, also die Rechtsradikalen, auf Kosten der CDU/CSU? Gehen Stimmen der Grünen an die PDS oder an die SPD? Das sind alles Fragen, die sich innerhalb dieses Rahmens noch stellen, aber wie ich meine, kann man davon ausgehen, dass sich in den nächsten zweieinhalb Jahren Stimmenverluste der Grünen und der SPD häufen werden, dass sich aber nach zweieinhalb Jahren, wenn die nächsten Bundestagswahlen kommen, diese Tendenz nicht fortsetzen wird.

Zu fragen bleibt, wie die Loccumer Initiative mit Rot-Grün und mit diesen Trends umgeht. Da ich die Tendenzen, die hier dargestellt wurden, in den letzten 25 Jahren immer wieder bestätigt gefunden habe, habe ich mir vor zweieinhalb Jahren auf der Tagung dieses Kreises den Vorschlag erlaubt, Rot-Grün als zukünftiges Tagungsthema zu benennen. Begründet habe ich das mit der Behauptung, uns trennten zwölf Monate, zwei Prozent und zwei Abgeordnetensitze vom Ende der Ära Kohl. Deshalb müsse man darüber nachdenken, was danach passieren soll.

Peter von Oertzen hat darauf geantwortet: Erstens ist es vollkommen unwahrscheinlich, man kann in keiner Weise davon ausgehen, dass Rot-Grün gewinnt. Und zweitens, wenn die Grünen und die SPD gewinnen sollten mit diesen Herren Schröder und Fischer an der Spitze, dann könne man das Thema sofort vergessen. So wörtlich.

Das hat bedeutet, dass man sich in der Tagung danach nicht mit diesem Thema befasst hat. Weil die Herren Schröder und Fischer gewonnen hatten, war schon gar kein Anlass, sich mit Rot-Grün zu beschäftigen. Rot-Grün wurde erst in dem Moment zum Thema, als man sehen konnte, das sind erstens – siehe Kosovo-Krieg – Verbrecher, – siehe Rentenreform – Betrüger und – siehe Sparprogramm – Verräter an der Sache, und zweitens, es geht bergab mit ihnen. Jetzt kann man über sie reden. Jetzt muss man über sie reden. Das Interesse des Kreises speist sich also erstens aus dem, was man den Bruch der Wahlversprechungen nennt, und zweitens aus den schlimmen Verlusten von Rot-Grün bei den Landtagswahlen. Bei dem Charakter dieses Kreises könnte man hier von einer Art politischem Masochismus reden, jedenfalls insoweit, als sich viele aus dem Kreis doch mit den Positionen von Sozialdemokraten oder Grünen, mit den programmatischen Vorstellungen dieser Parteien in irgendeiner Weise identifizieren.

Man muss nicht gerade der Auffassung sein, dass man jetzt für diese Regierung Propaganda machen muss, wohl aber lässt sich die Ansicht vertreten, dass man die Regierungsparteien und die Regierung drängen muss. Und das geht nicht anders als auch von außen und auch von unten. Der Atomausstieg zum Beispiel ist nicht zu bewerkstelligen, wenn nicht die Drohung mit dem Liebes- und dann auch mit dem Stimmenentzug funktioniert. Anders kann man die Regierung nicht dazu bringen, diesen Atomausstieg wirklich zu befördern; und es gibt unglaublich viele ähnliche Fälle, in denen Kreise wie dieser wirklich sehr viel tun könnten.

Allerdings wird wahrscheinlich auf solche Kreise wie diesen nur gehört werden, wenn sie auch glaubwürdig bleiben. Und da mangelt es insofern, als bestimmte Tatsachen gar nicht zur Kenntnis genommen werden oder auch gar nicht behandelt werden. Beispielsweise heißt es in dem Prokla-Heft mit dem Titel »Absturz von Rot-Grün«, dass in sozialer Hinsicht praktisch nichts geschehen sei. Ich habe mir in einem Paper die Mühe gemacht, einmal zusammenzustellen, welche sozialpolitischen Wohltaten von der rot-grünen Regierung im ersten halben Jahr direkt nach der Bundestagswahl ausgeteilt worden sind (Müller-Plantenberg 2000). Wohltaten, nach deren Verabschiedung Oskar Lafontaine im Februar 1999 – einen Monat vor seinem Rücktritt – stolz vor den Bundestag getreten ist und gesagt hat: »Versprechen: gehalten. Versprechen: gehalten.«. Und wieder »Versprechen: gehalten«. Das heißt, es gab eine Unmenge von Dingen, die nie zur Kenntnis genommen worden sind. Und zwar deswegen, weil die gehaltenen Wahlversprechen als Selbstverständlichkeit wahrgenommen und sonst nicht weiter mehr beachtet wurden. Von da an ging es dann bergab. Ein typisches Beispiel ist etwa das 630-DM-Gesetz, das in jeder Hinsicht sehr vernünftig und sehr verdienstvoll und sehr erfolgreich gewesen ist. Aber wie viele kritische Leute haben sich ohne Prüfung des Sachverhalts darüber gefreut, dass die rot-grüne Regierung mit diesem 630-DM-Gesetz auch noch wieder Probleme gekriegt hat! »Seht ihr«, haben sie gesagt, »da habt ihr’s!«

Wer nun wie Oskar Negt hofft, als außerparlamentarische Opposition auf Sozialdemokraten und Grüne Einfluss zu nehmen, darf nicht als jemand erscheinen, der das, was sie machen, überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht zur Kenntnis nehmen will. Nur dann kann er mit seiner Kritik glaubwürdig bleiben und für die Leute in der rot-grünen Regierung wirklich einen Gesprächspartner darstellen.

Es geht nicht darum, die Rolle von offiziellen Beratern der Regierung zu suchen oder zu übernehmen, wohl aber könnte sich ein Kreis wie dieser an Fragen wie zum Beispiel der vernünftigen Ausgestaltung der Rentenreform sehr nutzbringend beteiligen. Vorausdenkend und querdenkend.

Literatur

Eike Hennig (1999), Schwarz-Rot-Grün und die Wahlen von 1998 und 1999, in: Vorgänge, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Heft 148, S. 1-8.

Urs Müller-Plantenberg (2000), Machiavelli auf dem Kopf oder: das schlechte  Timing von Rot-Grün, Referat gehalten auf der Arbeitskonferenz im Dezember 1999 in Villigst in: Anhang zur Redaktionskorrespondenz der Prokla, Nr. 1/2000

Jürgen Seifert (1976): Thesen zur Bundestagswahl 1976, in: Prokla, Heft 25, S. 5-13.

Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller (1993): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Köln.


Tabelle: Zweitstimmenanteile an den Wahlberechtigten

(ab 1990 einschließlich neue Länder)

 

 

Bundestagswahl

1949

1953

1957

1961

1965

1969

1972

1976

1980

1983

1987

1990

1994

1998

Sonstige

16,8

11,9

8,6

4,8

3,1

4,6

0,9

0,9

0,6

0,6

1,1

3,3

2,8

4,8

CDU/CSU

23,6

37,5

42,4

38,2

40,3

39,3

40,5

43,8

39,0

43,1

37,3

34,0

32,7

28,5

FDP

9,1

7,9

6,5

10,8

8,0

4,9

7,6

7,1

9,3

6,1

7,7

8,6

5,5

5,1

Ung.u. Enth.

23,9

17,0

15,5

15,7

15,3

14,8

9,6

9,8

12,2

11,6

15,7

22,2

20,9

18,8

GRÜNE

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

1,3

4,9

7,0

4,0

5,8

5,5

SPD

22,2

23,9

26,8

30,5

33,3

36,4

41,4

38,4

37,6

33,7

31,2

26,0

28,8

33,2

KPD/DKP/PDS

4,4

1,8

0,2

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

1,9

3,5

4,1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Rechtes" Lager

49,5

57,1

51,0

53,8

51,4

48,8

49,0

51,8

48,9

49,8

46,1

45,9

41,0

38,4

"Linkes" Lager

26,6

25,7

27,0

30,5

33,3

36,4

41,4

38,4

38,9

38,6

38,2

31,9

38,1

42,8

 



[1] Die Episode der Großen Koalition wurde in der Darstellung und im zweiten Schaubild ausgelassen, weil sie sich nicht unmittelbar auf eine Wahl bezog.