Rawls weltweit

Urs Müller-Plantenberg

Nicht zu Unrecht hat „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, das Buch des Harvard-Professors für Sozialphilosophie John Rawls, seit seinem Erscheinen im Jahre 1971 – die deutsche Übersetzung erschien 1975 bei Suhrkamp in Frankfurt am Main – weltweit großes Aufsehen erregt und eine breite Debatte über Form und Inhalt sozialer Gerechtigkeit hervorgerufen. Eine inzwischen fast unübersehbare Zahl von etwa 5000 Schriften hat praktisch jeden der Schritte innerhalb der Argumentation von Rawls unter die Lupe genommen und einer Kritik unterzogen. Auf den folgenden Seiten geht es nicht darum, diesen immanenten oder von außen kommenden kritischen Anmerkungen zur Theorie selbst weitere hinzuzufügen; vielmehr soll auf dem Hintergrund der stattfindenden Globalisierung nach ihren nicht – oder bisher nicht ausreichend – gezogenen Konsequenzen gefragt werden.

Der Urzustand und der Schleier des Nichtwissens

Die Grundfrage von Rawls ist die nach der Möglichkeit von allgemein verbindlichen Gerechtigkeitsprinzipen, die von allen Mitgliedern und jedem einzelnen Mitglied einer gegebenen Gesellschaft akzeptiert werden könnten. Seine Grundidee besteht darin, dass solche Prinzipien nur objektiv verbindlich sein können, wenn sie von nur an ihrem eigenen Interesse ausgerichteten, frei und rational entscheidenden Menschen ausgewählt würden, wenn diese, in einen ursprünglichen Zustand der Gleichheit – den Urzustand – versetzt, die Aufgabe hätten, die Grundstruktur der künftigen Gesellschaft und alle ihre fundamentalen Normen zu bestimmen: „Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im Voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Überlegung entscheiden muss, was für ihn das Gute ist, das heißt, das System der Ziele, die zu verfolgen für ihn vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für alle Mal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit.“ (Rawls, 1975, S. 28).

Diese in der Tradition der Vertragstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts wurzelnde Vorstellung über die Möglichkeit einer – einstimmigen – Einigung auf „faire“ Grundsätze hat zur Voraussetzung, dass die beteiligten Personen über ihren zukünftigen Platz in der realen Gesellschaft nicht Bescheid wissen, sich vielmehr hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ befinden: „Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Das gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung.“ (Rawls, 1975, S. 29). Natürlich müssen die Menschen im Urzustand bei all ihrer Selbstunkenntnis ein Minimum an ökonomischen, soziologischen und psychologischen Grundkenntnissen haben, um Grundsätze festlegen zu können, die ja für die reale Gesellschaft gelten sollen. Die Menschen im Urzustand sind im Prinzip austauschbar oder, wie Rawls sagt, „repräsentativ“, weil jeder von ihnen sich in der gleichen Lage befindet, wie alle anderen auch. Die Aufgabe des Gerechtigkeitstheoretikers und Sozialphilosophen ist es jetzt, die – notwendig fairen – Verhandlungen der Menschen im Urzustand nachzuvollziehen und zu begründen, warum sie bestimmte, eben auch faire und keine anderen Grundprinzipien der Gerechtigkeit auswählen werden.

Grundsätze der Gerechtigkeit

Darin nun besteht im wesentlichen der Inhalt des Buches von John Rawls. Er kommt im Verlauf seiner Argumentation zu zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit, die er folgendermaßen formuliert:

1. Das Freiheitsprinzip:

„Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle verträglich ist.“ (Rawls 1975, S. 81).

2. Das Unterschiedsprinzip:

„Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, dass sie sowohl (a) den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen als auch (b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gemäß der fairen Chancengleichheit offen stehen.“ (Rawls 1975, S. 104).

Dabei hat das erste Prinzip, das eine individualrechtliche Freiheitsordnung in den Vordergrund stellt, unbedingten Vorrang vor dem zweiten, das für die Akzeptanz wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten den Nachweis allgemeiner Vorteilhaftigkeit verlangt. Allerdings geht Rawls mit seinem Eintreten für einen entschiedenen politischen Liberalismus nicht so weit, dass er auch „das Recht auf bestimmte Arten des Eigentums (zum Beispiel an Produktionsmitteln) oder die Vertragsfreiheit im Sinne des laissez-faire“ zu den Grundfreiheiten zählen würde, wie das die Wirtschaftsliberalen im Allgemeinen zu tun pflegen. (Rawls 1975, S. 83).

Auch das Unterschiedsprinzip, das ja auf den ersten Blick insofern antiegalitär ist, als es soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten regeln soll, sie also voraussetzt, auch dieses Unterschiedsprinzip hat mit dem methodologischen Individualismus der Neoliberalen nichts gemein. Deren Credo ist das Pareto-Prinzip, wonach eine Verteilung einer Gütermenge auf bestimmte Menschen dann optimal ist, wenn es keine Umverteilung gibt, nach der mindestens ein Beteiligter besser und keiner schlechter dasteht, wobei jeder Beteiligte seine Situation selbst einschätzt. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein solches Prinzip, das sich um die existierenden Ungleichheiten prinzipiell nicht kümmert, keinen Maßstab für soziale Gerechtigkeit abgeben kann. Wie Amartya Sen festgestellt hat, wurde das Konzept der Pareto-Optimalitat »genau deswegen entwickelt, um an der Notwendigkeit von Verteilungsurteilen vorbeizukommen« (Sen 1975, S. 19).

Das Unterschiedsprinzip versucht aber nach Rawls auch, „objektive Grundlagen für interpersonelle Nutzenvergleiche zu liefern“ (Rawls 1975, S. 112). Er nimmt an, dass die Menschen im Urzustand sich darauf einigen würden, bestimmte Güter als gesellschaftliche Grundgüter zu betrachten, von denen jeder eher mehr als weniger haben möchte. Dazu gehören vor allem Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen. Da Rechte, Freiheiten und Chancen wegen der Rangordnung der Prinzipien als für alle gleich vorausgesetzt werden können, beschränkt sich der für die Beobachtung des Unterschiedsprinzips notwendige Aufwand auf die Messung der Aussichten der am wenigsten Begünstigten auf mehr Einkommen und Vermögen (vgl. Rawls S. 113f.). Allerdings ist diese Reduktion nur möglich, weil Rawls zur Vereinfachung seiner Argumentation annimmt, dass sich mit einer Verbesserung der Position der am schlechtesten Gestellten in der Regel auch Vorteile für die jeweils etwas besser Gestellten ergeben (vgl. Rawls 1975, S. 101ff.). Diese „Verkettung“ mag für die Grundstruktur einer geschlossenen Gesellschaft noch anzunehmen sein; welche Probleme sich aber ergeben, wenn das sichere Gebiet der geschlossenen Gesellschaft verlassen wird, werden wir noch sehen.

Als John Rawls 1971 sein Buch veröffentlichte, wurde das Unterschiedsprinzip vor allem als antiegalitär verstanden, weil es einseitig der Rechtfertigung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten zu dienen schien. Der Unternehmer darf reich sein, so die Botschaft von Rawls, wenn er durch Verbesserung der Wirtschaft und rasche Einführung von Neuerungen die Aussichten der Arbeiterklasse und auch die des ungelernten Arbeiters auf mehr Einkommen und Vermögen verbessert (vgl. Rawls 1975, S. 98f.). Die Formulierung des Unterschiedsprinzips zielt aber genau in die andere Richtung, nämlich hin auf die Begrenzung der Erlaubnis von Ungleichheiten. „Wenn man so will,“ schreibt Wolfgang Kersting, „erhebt Rawls damit den egalitaristischen Sozialisten in den Rang eines Opponenten, vor dem sich der kapitalistische Ungleichheitsapologet rechtfertigen muss.“ (Kersting 1993, S. 53). In einer Welt, in der inzwischen die neue Sozialdemokratie ohne Rücksicht auf die Aussichten der Ärmsten der Armen aller Welt zuruft: „Bereichert Euch!“, in einer solchen Welt erscheint Rawls zunehmend als extremer Egalitarist.

Grenzen der Theorie

Die Kritik, die die so genannten „Kommunitaristen“ seit den siebziger Jahren an Rawls geübt haben, hat sich vor allem gegen seinen angeblich überzogenen Individualismus gerichtet, der ihn daran gehindert habe, die „konstitutive“ Bedeutung von Gemeinschaften für die Identität der einzelnen Personen zu würdigen. Das ist nun allerdings ein Punkt, der an den Kern der Theorie von Rawls geht, weil in der Tat die im Urzustand aufeinandertreffenden Menschen nicht anders als pure Individuen betrachtet werden können. Mit einer Abkehr von diesem Individualismus würde sofort auch die Möglichkeit verschwinden, die Grundstruktur einer Gesellschaft daran zu messen, ob sie bestimmten, eindeutigen Grundprinzipien von Gerechtigkeit genügt. Das ist allerdings auch gar nicht die Absicht der so genannten „Kommunitaristen“, wie schon an den Titeln wichtiger Schriften deutlich wird, wo es um „Liberalismus und die Grenzen von Gerechtigkeit“ (Sandel 1982) oder (verschiedene) „Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer 1983) geht.

Ernster zu nehmen ist schon der Universalismusvorwurf, den manche der so genannten „Kommunitaristen“ gegen Rawls erheben. Seine Konstruktion der Verhandlungen der Menschen im Urzustand diene dazu, Normen unabhängig von konkreten historischen und kulturellen Kontexten zu rechtfertigen. Das von Rawls gewählte Verfahren könnte nur für Menschen bedeutungsvoll sein, die mit der modernen abendländischen Denkweise und ihrer besonderen Art der Rechtfertigung von Normen vertraut seien. Partikulare westliche Werte würden so auch Gesellschaften aufgezwungen, die in einem anderen Kontext stehen, und den spezifischen Wertvorstellungen fremder Kulturen bliebe so die Anerkennung versagt (Dietrich 1998, S. 4f.). Aber auch die Gründe, die Rawls dafür angibt, dass die Parteien im Urzustand sich für das Unterschiedsprinzip entscheiden, nämlich dass sie allesamt eine Strategie des minimalen Risikos befolgen und immer das Schlechteste erwarten, lässt sich als kennzeichnend für vorherrschende Psychostrukturen, Motivationen und Verhaltenserwartungen in westlich-demokratischen Ländern beschreiben.

Rawls selbst hat sich verschiedentlich zur Frage der universellen Geltung der Gerechtigkeitstheorie geäußert. So hat er betont, dass seine Konzeption des politischen Liberalismus ausdrücklich an die spezifischen Wertvorstellungen moderner demokratischer Gesellschaften anknüpfe (Rawls 1993a, S. 13), und damit auch begründet, warum ein Urzustand, an dem alle Personen der Welt teilnehmen, schwer zu denken sei, weil man dafür nämlich voraussetzen müsse, dass alle Personen „ohne Rücksicht auf ihre Gesellschaft und Kultur als Individuen behandelt werden, die frei und gleich sowie rational und vernünftig sind und damit liberalen Konzeptionen entsprechen.“ (Rawls 1993b, S. 66).

Eine weitere – erstaunlicherweise eher selten beobachtete – Grenze der Gerechtigkeitstheorie von Rawls ergibt sich aus dem Umstand, dass hinter dem Schleier des Nichtwissens auch die Zugehörigkeit zu einem der Geschlechter oder die mögliche Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit verschwindet. Natürlich ist Rawls strikt gegen jede Diskriminierung bestimmter Gruppen in der Gesellschaft, und eine den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechende Grundstruktur der Gesellschaft würde zwangsläufig jede Diskriminierung von Gruppen ausschließen. Wie sich aber in der real existierenden Gesellschaft die Ergebnisse langjähriger Diskriminierung überwinden oder gar kompensieren lassen, das ist für Rawls kein Thema, jedenfalls nicht mit Bezug auf die betroffene Gruppe. Frauen kommen in der ganzen Konstruktion nicht vor – allerdings auch keine Männer. Wenn unter den am wenigsten Begünstigten Frauen sind, so ist nach dem Unterschiedsprinzip auf ihre Aussichten zu achten, aber nicht weil sie Frauen sind, sondern weil sie zu den am wenigsten Begünstigten gehören.

Die einzige besondere Qualität der Menschen, die in der Theorie der Gerechtigkeit einen Platz findet, ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, weil nämlich ohne einen gerechten Spargrundsatz keine intergenerative Gerechtigkeit als notwendiger Bestandteil sozialer Gerechtigkeit bewahrt werden könnte (vgl. Rawls 1975, S. 319ff.). In einer späteren Version des Unterschiedsprinzips hat Rawls daher noch die Einschränkung gemacht, dass dieser gerechte Spargrundsatz befolgt werden müsse (vgl. Rawls 1975, S. 336).

Die geschlossene Gesellschaft

Kommen wir nun zu dem eigentlichen Problem. Es hängt mit der Frage zusammen, auf welche Gesellschaft sich Rawls eigentlich bezieht. Es ist schon hervorgehoben worden, dass seine Grundannahmen über die Gesellschaft an die spezifischen Wertvorstellungen moderner westlich-demokratischer Gesellschaften anknüpfen. Die vertragstheoretischen Konstruktionen erinnern sogar bisweilen stark an die Modelle, mit denen neoliberale Theoretiker wie James Buchanan und Gordon Tullock aus den Verhandlungen einer Grundeigentümer-Gesellschaft der USA um das Jahr 1787 – Frauen und Sklaven weggedacht – die ihrer Meinung nach zeitlos gültigen Regeln für den Zugriff auf öffentliche Güter und ihre Finanzierung ableiten.

Rawls selbst macht gleich im ersten Kapitel einige weitreichende Aussagen über die Gesellschaft, um die es ihm geht:

"Nehmen wir, um etwas Bestimmtes vor Augen zu haben, an, eine Gesellschaft sei eine mehr oder weniger in sich abgeschlossene Vereinigung von Menschen, die für ihre gegenseitigen Beziehungen gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennen und sich meist auch nach ihnen richten. Nehmen wir weiter an, diese Regeln beschrieben ein System der Zusammenarbeit, das dem Wohl seiner Teilnehmer dienen soll." (Rawls 1975, S. 20). Wenig später heißt es dann: "Ich bin zufrieden, wenn es gelingt, einen vernünftigen Gerechtigkeitsbegriff für die Grundstruktur der Gesellschaft zu formulieren, wobei wir uns die Gesellschaft vorerst als geschlossenes System vorstellen, das keine Verbindung mit anderen Gesellschaften hat. Dieser Spezialfall ist ganz offenbar von hinreichender Bedeutung. Die Vermutung liegt nahe, dass eine brauchbare Theorie für diesen Fall auch die Behandlung der übrigen Gerechtigkeitsprobleme erleichtern wird. Mit entsprechenden Abänderungen dürfte eine solche Theorie den Schlüssel für manche dieser anderen Probleme bilden." (Rawls 1975, S. 24).

Diese Grundvoraussetzung einer geschlossenen Gesellschaft wird im gesamten weiteren Verlauf der Analyse von 1971 nie wieder hinterfragt. Das Problem ist aber, dass es diese geschlossenen Gesellschaften ohne Verbindung zu anderen Gesellschaften – bis auf einen wichtigen Ausnahmefall – in der Realität nicht gibt, weil unendlich viele – und im Zeitalter der Globalisierung immer noch mehr – zwischengesellschaftliche Transaktionen stattfinden, die auf die Verteilung der Grundgüter innerhalb der einzelnen Gesellschaften erhebliche Auswirkungen haben. So gibt es für jede Gesellschaft eine Vielzahl von Akteuren, die mit ihrem Handeln auf die ökonomischen und sozialen Bedingungen in dieser Gesellschaft Einfluss nehmen, aber nicht als Bürger oder Mitglieder zu ihr gehören und deshalb auch nicht auf die Gerechtigkeitsgrundsätze verpflichtet sind, von denen Rawls annimmt, dass sich auf sie die Personen dieser Gesellschaft einigen würden. Dazu gehören nicht nur die weltweit agierenden internationalen und multilateralen Unternehmen, Organisationen und Institutionen, sondern auch der ganze grenzüberschreitende Handel, der Tourismus und vieles mehr.

Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Menschen, die, obwohl sie einer bestimmten Gesellschaft nicht angehören, doch von Handlungen, die innerhalb dieser Gesellschaft durchaus den als verpflichtend angenommenen Gerechtigkeitsgrundsätzen genügen mögen, in einer Weise betroffen werden, die sie niemals als fair würden anerkennen können. Man müsste sie eigentlich – im Unterschied zu den „Akteuren“ – „Passeure“ nennen. Die Getreideproduzenten in Afrika oder die Fleischproduzenten in Südamerika, die sich gegen die Billigexporte und den Agrarprotektionismus der Europäischen Union nicht durchsetzen können, sind nur besonders krasse Beispiele für solche „Passeure“.

Fast noch wichtiger ist die Tatsache, dass in praktisch jeder Gesellschaft heute sehr viele Personen leben, die nicht – oder noch nicht – die Staatsangehörigkeit des entsprechenden Landes besitzen. Die Frage ist, in welchem Maße sie Anspruch darauf besitzen, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze der Fairness des „Gastlandes“ auch für sie gelten, was insbesondere problematisch wird, wenn sie die am wenigsten Begünstigten innerhalb der Gesellschaft sind. Die Anwendung des Unterschiedsprinzips zu ihren Gunsten müsste keineswegs, wie Rawls das in seinem Abschnitt über "Verkettung" für die geschlossene Gesellschaft annimmt, auch zu einer Verbesserung der Situation der sonst am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft führen. Da meist eher das Gegenteil gilt oder wenigstens befürchtet wird, könnte Rawls hier sogar für eine Position vereinnahmt werden, die Gerechtigkeit nur für die Mitglieder der eigenen Gesellschaft und damit eine konsequente Ausgrenzung aller anderen verlangt, eine Position, die zur Genüge bekannt ist.

Die Gerechtigkeitstheorie ist so konstruiert, dass es grundsätzlich keine Übertragbarkeit auf Fälle offener Gesellschaften geben kann, weil die Konstruktion der allgemein akzeptierten Gerechtigkeitsvorstellung eine eindeutige Definition der Mitgliedschaft in der Gesellschaft verlangt. Es muss möglich sein, eindeutig zu wissen, wer dazugehört und wer nicht. Gerade das aber steht in einer offenen Gesellschaft immer wieder in Frage.

In dem Maße, in dem die Globalisierung fortschreitet, lässt sich immer weniger denken, dass Gerechtigkeitsvorstellungen, die für geschlossene Gesellschaften entwickelt worden sind, in den bestehenden offenen Gesellschaften allgemein akzeptiert und wirklich relevant werden können.

Globale Gerechtigkeit

Natürlich ist auch Rawls auf die Idee gekommen, dass es jenseits der eigenen geschlossenen Gesellschaft eine Sphäre gibt, für die allgemein anerkannte Gerechtigkeitsgrundsätze gelten könnten und müssten. Allerdings hat er die sich aus der – immer noch wachsenden – Offenheit der real existierenden Gesellschaften ergebenden Fragen und Probleme einfach ignoriert, indem er die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness innerhalb der geschlossenen Gesellschaft als im wesentlichen erledigt behandelt hat und sich nun die Frage gestellt hat, wie man die Theorie für diesen einheimischen Fall (domestic case) auf die ganze Welt ausdehnen und entsprechend ergänzen könne. In einem Vortrag innerhalb der Oxford Amnesty Lectures zum Thema Menschenrechte hat er 1993 unter dem Titel „The Law of Peoples“ begründet, warum er für diese Erweiterung seiner Theorie nicht bei einem „allumfassenden Urzustand mit Vertretern aller individuellen Personen der Welt“ (Rawls 1993, S. 65) beginnt. Seiner Meinung nach ist dieses Verfahren einerseits – wegen der damit verknüpften anthropologischen Annahmen über die liberale Vernunft aller Menschen – zu kompliziert, andererseits aber auch nicht nötig, weil es wohl zu keinen anderen Ergebnissen führen würde, als wenn man von getrennten Gesellschaften (separate societies) ausgehen würde (Rawls 1993, S. 66).

Man kann über die Bedeutung der Weltgesellschaft, über die denkbare Reichweite und Wirksamkeit der in ihr agierenden Institutionen durchaus sehr verschiedener Meinung sein; in jedem Fall erfüllt sie eine Bedingung, die für eine Sozialvertragstheorie, wie sie die Gerechtigkeitstheorie darstellt, notwendig verlangt werden muss: Sie ist eine geschlossene Gesellschaft.

Rawls schlägt stattdessen ein Verfahren mit zwei Ebenen von unten nach oben (two-level bottom-up procedure) vor, wobei man zuerst mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen für die Grundstruktur der heimischen Gesellschaft beginnt und sich dann nach oben und außen zum Völkerrecht (law of peoples) bewegt (vgl. Rawls 1993, S. 66).

Das Völkerrecht

Rawls betont ausdrücklich: „Es gibt keinen relevanten Unterschied dazwischen, wie Gerechtigkeit als Fairness für den heimischen Fall in A Theory of Justice ausgearbeitet wurde, und wie das Völkerrecht von allgemeineren liberalen Gerechtigkeitsideen aus ausgearbeitet wurde. In beiden Fällen benutzen wir dieselbe Grundidee eines vernünftigen Konstruktionsverfahrens, bei dem rationale Akteure (jeweils als Vertreter von Bürgern im einen und von Völkern oder Gesellschaften im anderen Fall) fair miteinander die Gerechtigkeitsgrundsätze für das entsprechende Subjekt, entweder ihre separaten heimischen Institutionen oder das gemeinsame Völkerrecht auswählen. Die Parteien werden dabei wie immer von den geeigneten Vernunftgründen geleitet, wie sie von einem Schleier des Nichtwissens festgelegt werden.“ (Rawls 1993, S. 67, Übersetzung UMP).

Das Völkerrecht im Sprachgebrauch von Rawls (law of peoples) steht dabei in demselben Verhältnis zu dem real existierenden Völkerrecht (law of nations) wie die fairen Gerechtigkeitsgrundsätze, die sich auf die Grundstruktur einer Gesellschaft beziehen, zu den real existierenden politischen und sozialen Institutionen dieser Gesellschaft (vgl. Rawls 1993, S. 51). Und was die „Völker“ sind, erklärt er so: „Unter Völkern verstehe ich Personen und die von ihnen Abhängigen, betrachtet als eine Körperschaft (corporate body) und organisiert durch ihre politischen Institutionen, die die Gewalten der Regierung bilden. In demokratischen Gesellschaften werden die Personen Bürger sein, in hierarchischen und anderen Gesellschaften werden sie Mitglieder sein.“ (Rawls, 1993, S. 221, Übersetzung UMP).

Die Schwierigkeit, vor der sich Rawls bei seiner Analyse des Völkerrechts sieht, besteht zunächst darin, dass nach seinen Definitionen nicht alle Völker als wohlgeordnete (well-ordered) Gesellschaften in dem Sinne organisiert sind, dass sie auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten sind, von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert werden und insofern sehr stabil sind (vgl. Rawls 1975, S. 21, S. 494ff.), sondern dass es auch noch andere, ungeordnete (disordered) Gesellschaften gibt, die die  Grundsätze des Völkerrechts entweder nicht beachten wollen oder aufgrund ungünstiger Bedingungen nicht beachten können. Aber nicht einmal alle wohlgeordneten Gesellschaften sind liberale, demokratische Gesellschaften, deren Gerechtigkeitsgrundsätze den von Rawls entwickelten entsprechen. Neben diesen gibt es andere, hierarchische Gesellschaften, deren Gerechtigkeitsvorstellungen anderen, etwa religiösen Quellen entstammen.

Rawls entwickelt demnach die Grundsätze des Völkerrechts auf zwei Stufen mit jeweils zwei Schritten. Der erste Schritt der ersten Stufe stellt die „ideale“ Theorie dar. Er beschäftigt sich mit dem Völkerrecht unter liberalen, demokratischen Gesellschaften. Die allgemeineren liberalen Ideen, wie sie für das Völkerrecht charakteristisch sind, könnten, wie Rawls meint, auf die eher egalitären Grundsätze wie die Chancengleichheit oder das Unterschiedsprinzip verzichten (vgl. Rawls 1993, S. 51f.). Im übrigen begnügt er sich mit der Benennung einiger grundlegender Prinzipien wie Freiheit und Unabhängigkeit der Völker, Gleichheit untereinander, Recht auf Selbstverteidigung, aber nicht auf Angriffskrieg, Pflicht der Nichteinmischung, Pflicht zur Einhaltung von Verträgen und Verpflichtungen, Beachtung von Grundsätzen einer geregelten Kriegführung (im Fall der Selbstverteidigung) und Achtung der Menschenrechte (vgl. Rawls 1993, S. 55).

Der zweite Schritt auf dieser ersten Stufe beschäftigt sich dann mit der Ausdehnung dieser Grundsätze auf die anderen wohlgeordneten Gesellschaften, nämlich die so genannten hierarchischen Gesellschaften. Von ihnen wird angenommen, dass sie nicht expansionistisch sind und die Menschenrechte respektieren (vgl. Rawls 1993, S. 67). Rawls nimmt dann an, dass diese Gesellschaften, obwohl ihre innere Ordnung Gerechtigkeitsvorstellungen gehorcht, die liberalen Grundsätzen nicht entsprechen, keine Schwierigkeiten damit hätten, an der auf der ersten Stufe entwickelten „idealen“ Theorie mitzuwirken und die genannten Grundsätze des Völkerrechts zu akzeptieren.

Die „nicht-ideale“ Theorie befasst sich dann auf der zweiten Stufe damit, was die Gesellschaft der wohlgeordneten Gesellschaften gegenüber den Völkern zu tun hat, die die Grundsätze des so konzipierten Völkerrechts nicht befolgen wollen oder können. Im ersten Schritt geht es um die Schurken-Regimes (outlaw-regimes), die sich in ihrem Expansionismus an kein Völkerrecht halten. Als dämonisches Beispiel wird das Nazi-Regime genannt (vgl. Rawls 1993, S. 71ff.). Ihnen gegenüber sollten die wohlgeordneten Gesellschaften im besten Fall einen modus vivendi finden, der ihnen gestattet, ihre Integrität im Rahmen des Völkerrechts zu verteidigen. „Die einzig legitimen Gründe für das Recht zum Krieg gegen Schurken-Regimes sind Verteidigung der Gesellschaft wohlgeordneter Völker und – in schweren Fällen – unschuldiger Personen, die ihnen unterworfen sind, sowie des Schutzes ihrer Menschenrechte“ (Rawls 1993, S. 73, Übersetzung UMP). Letztes Ziel müsse immer sein, auch diese Gesellschaften dazu zu bringen, die Grundsätze des Völkerrechts anzuerkennen und selbst Mitglied der Gesellschaft wohlgeordneter Völker zu werden.

Im zweiten Schritt auf dieser Stufe der „nicht-idealen“ Theorie werden kurz die Probleme mit den Völkern behandelt, die aufgrund „des Mangels an politischen und kulturellen Traditionen, an materiellen und technologischen Ressourcen, an Humankapital und Know-how“ unter so ungünstigen Bedingungen leiden, dass an eine wohlgeordnete Gesellschaft nicht zu denken ist. Ihnen, so der Schluss von Rawls, muss geholfen werden, dass sich ihre Bedingungen so verbessern, dass eine wohlgeordnete Gesellschaft – liberal oder wenigstens hierarchisch – möglich wird (vgl. Rawls 1993, S. 74ff.).

Nationaler Partikularismus

Auch an dieser Stelle, an der es ja in Wahrheit um die am wenigsten Begünstigten der Welt geht, kommt Rawls nicht umhin, die theoretische Möglichkeit zu erörtern, das Unterschiedsprinzip oder andere Grundsätze von Verteilungsgerechtigkeit auf die Ungleichheit in der Völkergesellschaft anzuwenden. Er hält das für nicht machbar, weil das Unterschiedsprinzip erstens zur idealen Theorie für eine demokratische Gesellschaft gehöre und in keinen anderen Rahmen passe und weil die Pflicht für die reicheren wohlgeordneten Gesellschaften, den ärmeren beizustehen, sich besser aus der idealen Konzeption einer Völkergesellschaft ableiten lasse als aus „irgendeinem Prinzip liberaler Verteilungsgerechtigkeit“ (Rawls 1993, S. 76).

Das sind nun allerdings keine sehr starken Argumente, zumal das Problem internationaler Verteilungsgerechtigkeit damit schlicht und für immer ausgeklammert wird. Die Konsequenz, mit der Rawls dieses Problem immer wieder zurückdrängt, hat damit zu tun, dass er es im Sinne der Stringenz seiner Theorie für unbedingt notwendig hält, an seinem Verfahren mit zwei Ebenen von unten nach oben (two-level bottom-up procedure) festzuhalten: erst die Personen, dann die Völker (oder Gesellschaften oder Nationen).

Außer Personen und Völkern gibt es nichts in der Welt von Rawls, weder hinter dem Schleier des Nichtwissens noch in den realen Einzelgesellschaften bzw. in der realen  Gesellschaft der Völker, als die er die Weltgesellschaft betrachtet. Amartya Sen hat diese Position 1999 in einem Artikel über globale Gerechtigkeit als „nationalen Partikularismus“ (national particularism) bezeichnet. Sie wird nach Sen dadurch charakterisiert, dass als Bereich, in dem Fairness geübt werden soll, jede Nation getrennt betrachtet wird. Die Konstruktion des Urzustandes findet also für jede Nation einzeln statt, und die Beziehungen zwischen den Nationen sollen von einer zusätzlichen Art von Fairness geleitet werden, bei der es um internationale Gerechtigkeit geht (vgl. Sen 1999, S. 118).

Genauer betrachtet bedeutet das, dass die Personen einer einzelnen Gesellschaft – oder eines einzelnen Volkes – bei der Konstruktion einer ihren Gerechtigkeitsvorstellungen genügenden Grundstruktur ihrer Gesellschaft von allen anderen Personen, die nicht zu dieser Gesellschaft – oder diesem Volk – gehören, absehen müssen. Für die Verteilungsgerechtigkeit zwischen mir und Menschen anderer Völker kann es nach dieser Lehre keine Maßstäbe und Grundsätze geben. Nach den – für das Unterschiedsprinzip wichtigen – am wenigsten Begünstigten ist allein unter den Leuten der eigenen Gesellschaft – des eigenen Volkes – zu suchen. Im Endeffekt kann dieser nationale Partikularismus zumindest in den wohlhabenden Ländern – bei allem Eintreten von Rawls für demokratische und liberale Grundsätze – so exklusiv verstanden werden, dass er nationalistischen und ethnozentristischen Bestrebungen nach dem Motto „Wir sind uns selbst die Nächsten“ direkt Vorschub leistet.

Sen ist hier nicht so streng. Er kritisiert an diesem Konzept vor allem, dass es der Existenz unendlich vieler grenzüberschreitender interpersoneller Beziehungen, Gemeinschaften, Organisationen und der mehrfachen Mitgliedschaft der meisten Menschen in vielen Gruppen – jenseits und quer zur Staatsbürgerschaft –  nicht Rechnung trägt und dass deshalb das Völkerrecht von Rawls nur einen begrenzten Beitrag zu einer Theorie „globaler“ – und nicht nur „internationaler“ – Gerechtigkeit leisten kann.

Großer Universalismus

Aber auch die andere extreme Position, die eines „großen Universalismus“ (grand universalism), wird von Sen als nicht praktikabel verworfen. Gemäß dieser Konzeption sollte Fairness in einem Bereich praktiziert werden, der alle Leute überall auf der Welt umfasst. Im Urzustand würde es sich dann darum handeln, Gerechtigkeitsgrundsätze für alle Menschen ohne Ansehung ihrer Nationalität oder anderer Klassifikationen auszuwählen (vgl. Sen 1999, S. 118). Der Versuch aber, die Argumentation von Rawls auf diese Weise auf die gesamte Menschheit zu übertragen, biete, solange man nicht über eine ausreichend umfassende institutionelle Basis verfügt, die dann die Regeln, zu denen man hypothetisch im Urzustand für die ganze Welt gekommen sei, auch durchsetzen könnte, große Schwierigkeiten, meint Sen (vgl. Sen 1999, S. 119).

In der Tat müsste die Auswahl der Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand, wenn man die Gedankenführung von Rawls direkt übertragen will, auf eine gemeinsame Grundstruktur der Weltgesellschaft zielen, die mit der fortdauernden Existenz der Souveränität von Nationalstaaten (oder auch Staatengruppen) nicht zu vereinbaren wären. Wie Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater jedoch gezeigt haben, führt die Globalisierung zu einem zwar ökonomisch, nicht aber sozial und politisch homogenisierten Raum. Globalisierung ohne einen globalen Gesell­schaftsvertrag könne, sagen sie mit Recht, nicht zu einer Weltgesellschaft führen, die die nationalstaatlich zusammengefassten Gesellschaften ersetzen könnte (vgl. Altvater/Mahnkopf  1996, S. 58ff.).

Die grenzüberschreitende Vielfalt

Das Dilemma besteht also für Sen darin, dass ihm der große Universalismus mit seiner Annahme eines einzigen Urzustandes für die ganze Welt als zu unrealistisch erscheint, während der nationale Partikularismus (mit internationalen Beziehungen) sich als zu separatistisch und eindimensional erweist. Als Ausweg aus diesem Dilemma schlägt er einen Ansatz vor, der die Zugehörigkeitsvielfalt (plural affiliation) von Menschen in den Mittelpunkt stellt. Er meint damit, „dass wir alle mehrfache Identitäten haben und dass aus jeder dieser Identitäten Sorgen und Forderungen erwachsen, die aus anderen Identitäten stammende Sorgen und Forderungen in bedeutsamer Weise unterstützen oder auch mit ihnen ernsthaft konkurrieren“ (Sen 1999, S. 120, Übersetzung UMP).

Sen hält es nun für möglich, die Konstruktion des Urzustandes für jede der – nationalen oder grenzübergreifenden – identitätsstiftenden Gruppen, Organisationen oder Institutionen zu vollziehen und auf diese Weise in ihnen und zwischen ihnen für Gerechtigkeit als Fairness zu sorgen. Insbesondere ist es ihm um die grenzüberschreitenden Beziehungen und Aktionen zu tun, die sich nicht als Transaktionen zwischen Nationalstaaten beschreiben lassen. Zu den Institutionen, die solche Beziehungen unterhalten, gehören beispielsweise transnationale Unternehmen, internationale gesellschaftliche Gruppen und politische Organisationen, Nicht-Regierungs-Organisationen, vor allem aber auch die internationalen Organisationen, die aus dem Zusammenwirken der Nationalstaaten selbst entstanden sind wie beispielsweise die Vereinten Nationen und ihre zahlreichen Unterorganisationen (vgl. Sen 1999, S. 120ff. – Sens Artikel ist ein Beitrag zu einer Veröffentlichung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen über internationale Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert).

Nun hat Rawls sich nicht grundsätzlich dagegen ausgesprochen, die Gerechtigkeitsgrundsätze seiner Theorie auch auf Subjekte unterhalb der Ebene der einzelnen Gesellschaft (des Nationalstaates) anzuwenden; allerdings schließt er beispielsweise hierarchische Institutionen wie Universitäten und Kirchen von dieser Möglichkeit aus (vgl. Rawls 1999, S. 46). Die international tätigen Personen, Gruppen, Organisationen geraten dagegen überhaupt nicht in sein Blickfeld, wenn man von den supranationalen Organisationen absieht, die er sich als mögliche dritte Ebene jenseits seines Zwei-Ebenen-Modells (Personen, Gesellschaften) vorstellen könnte.

Sens Vorschlag hat den Vorteil, dass er der existierenden Realität der Weltgesellschaft zweifellos wesentlich stärker gerecht wird als Rawls mit seinem weltfremden nationalen Partikularismus. Er bezahlt das allerdings mit einem Mangel an gedanklicher Strenge, die gerade das Überzeugende an der Theorie von Rawls ist. Und außerdem werden die Probleme, die sich aus einer breitgestreuten Anwendung des Fairness-Prinzips ergeben, nicht einmal benannt, geschweige denn diskutiert. Was soll geschehen, wenn beispielsweise eine Ärzte-Vereinigung Arrangements findet, die insofern dem Unterschiedsprinzip genügt, als sie zu einer Verbesserung der Situation der am wenigsten Begünstigten unter ihnen führt, aber auf Kosten der noch weniger begünstigten Patienten oder Beitragszahler? Ist es gerecht, wenn die Situation der am schlechtesten  gestellten Entwicklungshelfer auf Kosten derer, denen eigentlich geholfen werden soll, verbessert wird? Was ist mit den Millionen von Randexistenzen, die in äußerster Armut an eine Vielfalt von Identitäten überhaupt nicht denken können? Die reale Welt ist voll von Fragen dieser Art, auf die der Vorschlag von Sen keine klare Antwort parat haben kann. Er läuft im Gegenteil auf die Hoffnung hinaus, dass, wenn alle sich in allen Lebensbereichen immer strebend um Fairness bemühen, die globale Gerechtigkeit irgendwie schon befördert wird.

Mindesterfordernisse globaler Gerechtigkeit

Sen hat in seinem Aufsatz gelegentlich Worte wie „Solidarität“ oder „Sympathie“ verwandt (Sen 1999, S. 120), Worte, die Rawls in seiner Argumentation nie über die Lippen oder aufs Papier kommen würden. Die Strenge und Überzeugungskraft seiner Argumentation beruht ja gerade darauf, dass er – in diesem Sinne ganz Liberaler – das materielle Interesse jeder einzelnen Person bei den Verhandlungen im Urzustand zum Ausgangs- und Angelpunkt seiner Theorie macht. Dieses materielle Interesse führt – hinter dem Schleier des Nichtwissens über die reale Position in der realen Gesellschaft – zur extrem nüchternen Kalkulation der Risiken, die sich aus den verschiedenen denkbaren Gerechtigkeitsgrundsätzen ergeben. Zum Unterschiedsprinzip gelangt Rawls, weil er es für jede einzelne Person für strategisch richtig hält, das Risiko nach Möglichkeit für den Fall zu minimieren, dass sie im realen Leben zu den am wenigsten Begünstigten gehört.

Nun ist zu fragen, warum jede einzelne Person dieses Kalkül nur für den Fall anstellen soll, dass sie zu den am wenigsten Begünstigten in der eigenen Gesellschaft gehört. Warum sollte sie sich nicht – in einem Urzustand aller Menschen – ausmalen, was es bedeuten würde, zu den am wenigsten Begünstigten der ganzen Welt zu gehören? Wenn es für die Leute im Urzustand schon nicht berechenbar ist, ob sie am Ende als reiche deutsche Zahnarztgattin oder als arbeitsloser deutscher Landarbeiter in der realen deutschen Gesellschaft erscheinen, warum soll es dann für sie berechenbar sein, dass sie in keinem Fall als ledige junge Mutter in einem Elendsviertel von Haiti oder Bangla Desh zum realen Leben erweckt werden? Das Ausschalten dieser Denkmöglichkeit kommt gewissermaßen einer Absage an jeglichen Humanismus gleich. Die Nicht-Deutschen, das sind in solchem Fall die Anderen, die Fremden, mit deren persönlichem Schicksal man sich weder beschäftigen, noch gar identifizieren muss, es sei denn über den Weg des Völkerrechts.

Die Tatsache, dass die fortdauernde Existenz der Souveränität von Nationalstaaten einer gemeinsamen, einheitlichen Grundstruktur der Weltgesellschaft entgegensteht, muss ja aber nun nicht besagen, dass es unmöglich wäre, Grundsätze der Gerechtigkeit auszuwählen, die gleichwohl von Repräsentanten aller Menschen im Urzustand ausgewählt würden. Bei der Auswahl dieser Grundsätze würde die Existenz von – nicht notwendig nur liberalen – Nationalstaaten anerkannt werden müssen, so wie Rawls ja auch bei den Repräsentanten der Leute einer einzelnen Gesellschaft im Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissensein Minimum an ökonomischen, soziologischen und psychologischen Kenntnissen über das Funktionieren der realen Gesellschaft voraussetzt.

Rawls nimmt an, dass eine solche Konstruktion, die er selbst ablehnt, im Hinblick auf das Völkerrecht wahrscheinlich zu ähnlichen oder gar denselben Resultaten führen würde wie die von ihm bevorzugte Konstruktion einer Gesellschaft der Völker (vgl. Rawls 1993, S. 66).

Die Konzeption einer in souveräne Nationalstaaten – und Staatenbünde – gegliederten Weltgesellschaft würde es aber im Unterschied zu der Konstruktion von Rawls gestatten, im Urzustand auch darüber nachzudenken und zu verhandeln, welche Grundsätze gelten müssten, damit die Grundstruktur dieser Weltgesellschaft als fair akzeptiert werden kann. Es ist kein Grund zu sehen, warum für die einzelnen liberalen Gesellschaften nicht auch wieder die Gerechtigkeitsgrundsätze ausgewählt werden sollten, die von Rawls entwickelt worden sind. Wohl aber stellt sich die Frage, ob sie nicht in der Weise ergänzt werden müssten, dass einerseits die weltweiten Auswirkungen nationaler und internationaler Regelungen, andererseits die ungeheuer vielfältigen transnationalen und supranationalen Beziehungen, Organisationen, Institutionen berücksichtigt werden.

Eine im Sinne von Rawls vernünftige Kalkulation der Risiken durch die Repräsentanten der Mitglieder der Weltgesellschaft, also aller Menschen, würde dann wohl dazu führen, dass das Unterschiedsprinzip sowohl für die einzelnen liberalen Gesellschaften, als auch für die international agierenden Organisationen und Institutionen um einen entscheidenden Grundsatz ergänzt werden müsste. Das Unterschiedsprinzip ließe sich dann etwa folgendermaßen formulieren:

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, dass sie sowohl (a) den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen als auch (b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gemäß der fairen Chancengleichheit offen stehen. Alle Regelungen sind so zu treffen, dass weniger begünstigte Außenstehende dadurch nicht schlechter gestellt werden.

Der letzte Zusatz scheint zunächst sehr bescheiden zu sein. Würde dieser Grundsatz allerdings von einem Tag zum nächsten weltweit durchgesetzt, so käme das einer Revolution gleich. Die grenzüberschreitenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen von Produktionsprozessen, Allokationsentscheidungen, Umweltschutzmaßnahmen (oder deren Mängel), finanziellen Transaktionen, protektionistischen Maßnahmen etc., die allesamt als rein nationale (bzw. europäische) Angelegenheiten angesehen werden, sind derartig gewaltig, dass die Befolgung des genannten Grundsatzes eine erhebliche Änderung besonders im Leben der reicheren Gesellschaften herbeiführen würde.

Und doch ist dieser Grundsatz fair, weil er recht und billig eigentlich von niemand außer von denen zurückgewiesen werden kann, die den Schleier des Nichtwissens über ihren Platz in der Welt schon gelüftet haben und wissen, dass sie zu den Begünstigten gehören. Er fordert auch nicht zu viel, weil nicht verlangt wird, dass Außenstehende besser gestellt werden. Auch soll nicht unbedingt auf alle Außenstehenden Rücksicht genommen werden, sondern nur auf die weniger Begünstigten unter ihnen.

Der zusätzliche Grundsatz würde außerdem ein – zugegebenermaßen ungenügendes, gleichwohl häufig nicht erfülltes – Minimum für die Behandlung der Außenstehenden in der eigenen Gesellschaft, nämlich der im jeweiligen Land lebenden Ausländer, formulieren. Er würde damit helfen, der organisierten Schizophrenie ein Ende zu bereiten, die darin liegt, dass von den Menschen verlangt wird, sie sollten sich um der Gerechtigkeit willen vorstellen, sie könnten zu den Menschen gehören, denen es in der Gesellschaft schlecht geht, dass ihnen aber nicht erlaubt wird, darüber nachzudenken, was wohl passieren würde, wenn sie zusätzlich auch noch Ausländer sind.

Die von Rawls für die einzelne liberale Gesellschaft formulierten Grundsätze der Gerechtigkeit würden dieser Ausdehnung auf das Problem globaler Gerechtigkeit genau so wenig widersprechen wie seine Prinzipien des Völkerrechts. Und auch die von Sen geforderte Ausdehnung der Forderung nach Fairness als Prinzip auf die Vielfalt der nationalen und internationalen Gruppen, Organisationen und Institutionen lässt sich durchaus mit diesem zusätzlichen Grundsatz vereinbaren.

Es ist zugegebenermaßen unkonventionell, eine Vertragstheorie so zu formulieren, dass die Gesamtheit der Vertragschließenden nicht mit der Gruppe identisch ist, für die die Grundsätze der vertraglich vereinbarten Verfassungsgrundsätze gelten soll. Was aber im 17. und 18. Jahrhundert, der Zeit des Ursprungs der großen Vertragstheorien, noch allgemein als natürlich empfunden werden mochte, nämlich der Vorrang der nationalstaatlich verfassten Gesellschaften, kann im Zeitalter der Globalisierung nur noch bedingt gelten. Das bedeutet, dass man den vertragstheoretischen Ansatz unter dem Eindruck der Globalisierung entweder als obsolet zur Seite legen oder so modifizieren muss, dass er der gewandelten Wirklichkeit noch gerecht wird. Die vorgeschlagene Ergänzung der Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls stellt einen Versuch dar, diesen zweiten Weg zu gehen.

Eigentlich greift diese Ergänzung sogar auf einen Grundsatz des altrömischen Privatrechts zurück, der weit vor den Vertragstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts formuliert wurde: Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari (Was alle berührt, muss von allen genehmigt werden). Bartolomé de las Casas hat diesen Grundsatz 1565 kurz vor seinem Tod in der Schrift De Thesauris in Peru zum Ausgangspunkt seiner Forderung gemacht, dass das spanische Königtum, um in Amerika Geltung beanspruchen zu können, der ausdrücklichen Anerkennung durch die indianische Bevölkerung bedürfe (vgl. Las Casas 1958, S. 202; Pennington 1970, S. 153). Wie viel mehr müssen die Bürger einer liberalen Gesellschaft, deren Grundstruktur vielfältige Auswirkungen auf die Entwicklung anderer Gesellschaften und überhaupt auf das Schicksal der Menschen in aller Welt hat, um ihrer selbst willen wollen, dass die Interessen aller dieser Menschen in die Verhandlungen im Urzustand über die Grundstruktur ihrer Gesellschaft eingehen!

Wenn man Rawls auf diese Weise ernst nimmt, könnte er, der in vielem als ein sehr konservativer Vertreter eines unzeitgemäßen Liberalismus wirken mag, am Ende noch als ein geradezu revolutionärer Vorkämpfer einer gerechten Welt erscheinen. Ob er sich selbst so begreifen mag, ist eine andere Sache.

Literatur

Altvater, Elmar und Mahnkopf, Birgit (1996): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster.

Dietrich, Frank (1998): Die kommunitaristische Kritik an John Rawls’ Theorie des Gesellschaftsvertrages, Vortrag am 12. Januar an der Universität-GH Duisburg

Kersting, Wolfgang (1993): John Rawls zur Einführung, Hamburg.

Las Casas, Bartolomé de (1958), De Thesauris in Peru, Madrid.

Pennington, Kenneth (1970), Bartolomé de Las Casas and the Tradition of Medieval Law, in: Church History 39.

Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main.

Rawls, John (1993): The Law of Peoples, in: Stephen Shute und Susan Hurley, On Human Rights. The Oxford Amnesty Lectures, New York. (Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes erschien 1999 in einem bereits wieder vergriffenen Buch mit dem Titel „The Law of Peoples“).

Sandel, Michael (1982), Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge.

Sen, Amartya (1975): Ökonomische Ungleichheit, Frankfurt am Main und New York.

Sen, Amartya (1999): Global Justice. Beyond International Equity, in: Inge Kaul, Isabelle Grunberg und Marc A. Stern, Global Public Goods. International Cooperation in the 21st Century, New York und Oxford.

Walzer, Michael (1983), Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equity, New York.